Die verfahrensrechtliche Funktion der Grundrechte beinhaltet, dass die Grundrechte bereits im Entscheidungsprozess durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen abgesichert sind. Verfahren müssen demnach so gestaltet sein, dass eine Entwertung materieller Grundrechtspositionen ausgeschlossen ist.[46] Um dies zu gewährleisten, stehen einige Grundrechte ausdrücklich unter einem Verfahrensvorbehalt (z.B. Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 2 S. 4 GG). Auch die Grundrechte, die nicht ausdrücklich unter einem Verfahrensvorbehalt stehen, verpflichten die öffentliche Gewalt, Gerichts- und Verwaltungsverfahren so auszugestalten und zu organisieren, dass der Einzelne die Möglichkeit hat, sich effektiv am Verfahren zu beteiligen, damit er die ihm zustehenden Grundrechtsgewährleistungen verwirklichen kann.
Beispiel
Vgl. den Mühlheim-Kärlich-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts[47] als klassisches Beispiel: In diesem Verfahren hatte das Bundesverfassungsgericht über Verfahrensfehler im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren zu entscheiden. Es stellte fest, dass das Grundrecht auf Leben und Gesundheit im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren eine besondere Stellung erfordert. Die öffentliche Gewalt erfülle ihre Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auch durch Verfahrensvorschriften. Eine Verletzung des Grundrechts könne darin liegen, wenn die öffentliche Gewalt lebensschützende Verfahrensvorschriften außer Acht ließe.
b) Organisationsrechtliche Funktion
48
Die organisationsrechtliche Funktion der Grundrechte wird besonders in den Fällen relevant, in denen sich die Grundrechte in einer staatlichen Institution entfalten.
Beispiel
Eine staatliche Hochschule muss so organisiert sein, dass eine freie Wissenschaft in ihr möglich ist.[48]
c) Subjektiv-öffentliches Recht auf Schutz durch Verfahren und Organisation
49
Das Bundesverfassungsgericht und – ihm folgend – die wohl überwiegende Meinung im Schrifttum nehmen an, die verfahrens- und organisationsrechtliche Funktion der Grundrechte könne ein subjektiv-öffentliches Recht auf angemessenen Schutz durch Verfahren und Organisation begründen.[49] Sie folgern diese Möglichkeit aus zwei Umständen: Zum einen sei es erforderlich, den objektiv-rechtlichen Funktionen der Grundrechte möglichst auch eine subjektiv-rechtliche Komponente zuzuordnen; zum anderen betrachten sie die Grenzen zwischen den objektiv-rechtlichen und den subjektiv-rechtlichen Funktionen der Grundrechte als Leistungsrechte als fließend. Daraus folgern sie, dass unter bestimmten Voraussetzungen ein wehrfähiges Recht auf den Ausbau von Verfahrenspositionen bestehen müsse.
Beispiel[50]
Aus dem Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG folgt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts keine Bestandsgarantie für aus öffentlichen Mitteln finanzierte wissenschaftliche Einrichtungen.[51] Das schließt nicht aus, dass eine Fakultät im Verfahren zur Aufhebung eines Studiengangs in angemessener Weise zu beteiligen ist und Anspruch auf eine zumindest willkürfreie Entscheidung hat. Das Verfahren und die Qualität der Entscheidung müssen daher bestimmten Anforderungen genügen.
50
Besteht ein subjektiv-öffentliches Recht auf angemessenen Schutz durch Verfahren und Organisation, kann es in Konkurrenz zu anderen verfahrensrelevanten Grundrechten wie etwa Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG, Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG oder Art. 103 Abs. 1 GG stehen.
2. Teil Grundlagen › A. Allgemeine Grundrechtslehren › V. Grundrechtsverpflichtete
V. Grundrechtsverpflichtete
51
Die Grundrechte binden gemäß Art. 1 Abs. 3 GG die gesamte (deutsche)[52] Staatsgewalt, also die Legislative, die Exekutive und die Judikative, als unmittelbar geltendes Recht (s.o. Rn. 5, 9).
Hinweis
Art. 1 Abs. 3 GG nimmt durch die Aufzählung der drei Staatsgewalten auf Art. 20 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 GG Bezug.
Die Grundrechtsverpflichteten nennt man übrigens auch Grundrechtsadressaten, weil die Grundrechte an sie gerichtet, d.h. adressiert sind.
52
Die Hervorhebung „als unmittelbar geltendes Recht“ bringt zum Ausdruck, dass es sich bei den Grundrechten um wirksames Recht handelt. Dadurch unterscheiden sich die grundgesetzlich garantierten Grundrechte von vielen Grundrechten, die die Weimarer Reichsverfassung von 1919 verbürgte. Viele Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung waren bloße Programmsätze, bei deren Nichtbeachtung keine Sanktionen zu befürchten waren.
1. Legislative als Grundrechtsverpflichtete
53
Im Gegensatz zu vergangenen Zeiten in der deutschen Verfassungsgeschichte, in denen die Legislative nicht an die Grundrechte gebunden war, ist unter der Geltung des Grundgesetzes auch die Legislative gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden.
54
Der Begriff „Gesetzgebung“ in Art. 1 Abs. 3 GG umfasst jede Art staatlicher Normsetzung. Erfasst sind damit nicht nur die Akte des parlamentarischen Gesetzgebers, sondern auch solche des Verordnung- und Satzunggebers, obgleich dieser staatsorganisationsrechtlich der Exekutive zuzuordnen ist.
Beispiel
Die Gemeinde H betreibt ein Schwimmbad. Die Benutzungsordnung wird durch Satzung geregelt. Kürzlich ist die Benutzungsordnung dahingehend geändert worden, dass zukünftig nur noch Personen ohne körperliche Behinderung Zutritt erhalten. Der gehbehinderte Rentner W, der seit Jahrzehnten regelmäßig früh morgens in dem Schwimmbad seine Bahnen zieht, will dies nicht hinnehmen. – Dies wird er auch nicht müssen, denn H wird bei der Änderung ihrer als Satzung erlassenen Benutzungsordnung als Normsetzerin in ihrem eigenen Wirkungskreis tätig. Auch bei ihrer gesetzgeberischen Aktivität gehört sie staatsorganisationsrechtlich zur Exekutiven. Die Änderung der Benutzungsordnung ist gleichwohl „Gesetzgebung“ i.S.d. Art. 1 Abs. 3 GG, so dass H an die Grundrechte (und damit auch an Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) gebunden ist.
2. Exekutive als Grundrechtsverpflichtete
55
Auch die Exekutive ist gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden.
a) Der Exekutive zurechenbare Stellen
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Bei der Exekutive ist allerdings problematisch, welche Stellen überhaupt zur vollziehenden Gewalt gehören. Anerkannt ist, dass der Begriff der „vollziehenden Gewalt“ i.S.d. Art. 1 Abs. 3 GG umfassend zu verstehen ist. Dass hierzu nicht nur die Verwaltung im eigentlichen Sinne gehört, ergibt sich daraus, dass Art. 1 Abs. 3 GG in seiner ursprünglichen Fassung nicht von vollziehender Gewalt, sondern (nur) von „Verwaltung“ sprach. Erst im Jahre 1956 wurde der Begriff der Verwaltung durch den Terminus „vollziehende Gewalt“