In allen drei Beispielen sind die grundrechtlichen Gewährleistungen der Landesverfassungen daher gemäß Art. 142 GG gültig und binden die öffentliche Gewalt des jeweiligen Landes.
Hinweis
Art. 142 GG schränkt Art. 31 GG teilweise ein. Die Formulierung „. . . auch insoweit . . ., als . . .“ ist leichter zu verstehen, wenn Sie statt dessen „. . ., soweit . . .“ in den Verfassungstext hineinlesen.
2. Teil Grundlagen › A. Allgemeine Grundrechtslehren › III. Rang der Bundesgrundrechte innerhalb der (inländischen) Normenhierarchie
III. Rang der Bundesgrundrechte innerhalb der (inländischen) Normenhierarchie
9
Wiederholen Sie an dieser Stelle zunächst die (inländische) Normenhierarchie und ihre einzelnen Bestandteile im Skript „Staatsorganisationsrecht“!
Die Grundrechte des Grundgesetzes stehen als Bestandteil des Bundesverfassungsrechts an der Spitze der (inländischen) Normenhierarchie und nehmen daher eine herausragende Stellung innerhalb der Normenhierarchie ein. Dies hat zur Folge, dass die Grundrechte für das Handeln der öffentlichen Gewalt richtungsweisend sind. Die gesamte (inländische) öffentliche Gewalt ist gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden (s. oben Rn. 5 und unten Rn. 51). Alle (Bundes- und Landes-)Gesetze gelten daher nur im Rahmen der grundrechtlichen Verbürgungen des Grundgesetzes.[7]
Beispiel
Der einfache Gesetzgeber kann das Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nur insoweit einschränken, als eine solche Einschränkung ihrerseits am Maßstab des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gerechtfertigt ist.
2. Teil Grundlagen › A. Allgemeine Grundrechtslehren › IV. Funktionen der Grundrechte
1. Doppelfunktion der Grundrechte
10
Zumindest die meisten Grundrechte haben eine Doppelfunktion, nämlich eine subjektiv-rechtliche und eine objektiv-rechtliche Funktion.
Hinweis
„Funktion“ der Grundrechte ist die herkömmliche Bezeichnung. Gemeint ist damit die rechtliche Wirkung der Grundrechte zugunsten ihres Schutzguts.[8] Zurückzuführen ist die Bezeichnung „Funktion“ wohl auf die sog. Statuslehre von Jellinek. Nach dieser Lehre sind drei Kategorien von Grundrechten zu unterscheiden: der status negativus (die Grundrechte als Abwehrrechte), der status positivus (die Grundrechte als Leistungsrechte) und der status activus (die Grundrechte als Rechte zur aktiven Teilnahme).[9]
11
In ihrer subjektiv-rechtlichen Funktion sind die Grundrechte subjektiv-öffentliche Rechte (s.o. Rn. 4 f.). Dies ist verfassungsrechtlich festgelegt. Als subjektiv-öffentliche Rechte enthalten die Grundrechte eine konkrete Begünstigung des Einzelnen. Die subjektiv-rechtliche Funktion der Grundrechte zeigt sich oft schon am Wortlaut eines Grundrechts: Manche Grundrechte werden ausdrücklich als „Recht auf“ (Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 GG) oder als „Recht“ (Art. 5 Abs. 1 S. 1, Art. 7 Abs. 4, Art. 8 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 S. 1, Art. 17 GG) gewährleistet. Andere Grundrechte verwenden den Begriff der „Freiheit“ (Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG), der ebenfalls ein rechtliches Dürfen zum Ausdruck bringen soll.[10]
12
Die objektiv-rechtliche Funktion der Grundrechte ist demgegenüber maßgeblich das Produkt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht hat eine auch objektiv-rechtliche Funktion der Grundrechte früh und seitdem in ständiger Rechtsprechung[11] anerkannt. Nach seiner Auffassung enthalten die Grundrechte, genauer die Freiheitsrechte, „nicht allein Abwehrrechte des einzelnen gegen die öffentliche Gewalt, sondern stellen zugleich objektiv-rechtliche Wertentscheidungen der Verfassung dar, die für alle Bereiche der Rechtsordnung gelten und Richtlinien für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung geben.“ In ihrer objektiv-rechtlichen Funktion enthalten die Grundrechte damit objektive Gewährleistungen, die den Staat allgemein, d.h. unabhängig vom Einzelnen, binden und i.d.R. durch den Gesetzgeber zu konkretisieren sind.[12]
Beispiel
Das Grundrecht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG begründet nicht nur ein Abwehrrecht des Bürgers gegen Eingriffe der öffentlichen Gewalt in das Rechtsgut Leben, sondern konstituiert das menschliche Leben auch als einen zentralen „Wert“ der Verfassung, an den der Staat allgemein gebunden ist.[13]
2. Subjektiv-rechtliche Funktion der Grundrechte
13
Zunächst ist die subjektiv-rechtliche Funktion der Grundrechte zu klären. Sie bezieht sich auf die Grundrechte als subjektiv-öffentliche Rechte (s.o. Rn. 4 f.). Je nach ihrer (primären) rechtlichen Wirkung zugunsten ihres Schutzguts werden die Grundrechte herkömmlich in drei verschiedene Arten eingeteilt: Freiheitsrechte, Leistungsrechte und Gleichheitsrechte.
a) Grundrechte als Freiheitsrechte
14
Die weitaus meisten Grundrechte sind Freiheitsrechte. Als Freiheitsrechte sollen sie „die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt sichern“.[14] Merke: Freiheitsrechte gewährleisten „Freiheit vor dem Staat“. Indem die Freiheitsrechte damit traditionell in erster Linie auf die Abwehr staatlicher Eingriffe gerichtet sind, überwiegt bei ihnen die Abwehrfunktion.[15] Deshalb werden sie auch „Abwehrrechte“ genannt.
Beispiel
A betreibt seit vielen Jahren eine Gaststätte in Nordrhein-Westfalen.[16] Nachdem die Finanzbehörde bei der jüngsten Betriebsprüfung wieder Unregelmäßigkeiten bei A festgestellt hatte, hielt die zuständige Ordnungsbehörde A für unzuverlässig i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 1 GastG und untersagte ihm die weitere Ausübung seines Gewerbes. – A genießt bei der Ausübung seines Gaststättengewerbes den Schutz der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG. Die Gewerbeuntersagung der Behörde greift in die Berufsfreiheit des A ein. Der Eingriff könnte verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Die Berufsfreiheit steht unter dem Schrankenvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG. Als Ermächtigungsgrundlage für die Gewerbeuntersagung der Behörde dient § 15 Abs. 2 GastG, der den Widerruf der Gewerbeerlaubnis wegen Unzuverlässigkeit i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 1 GastG vorsieht. Ob die Gewerbeuntersagung im Lichte des Grundrechts des A auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG rechtmäßig ist, hängt davon ab, ob die behördliche Gewerbeuntersagung verhältnismäßig ist.
15
Die primäre Funktion der Freiheitsrechte