Hinweis
Das sog. Untermaßverbot bildet quasi das Gegenstück zum sog. Übermaßverbot (s. dazu unten Rn. 143). Beim Untermaßverbot darf der Staat bei seinem Verhalten nicht unterhalb eines gewissen Levels bleiben, andernfalls verletzt er seine Pflichten („er darf nicht untertreiben“); beim Übermaßverbot darf er nicht ein gewisses Level überschreiten, andernfalls verletzt er seine Pflichten („er darf nicht übertreiben“).
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Wie wird das erforderliche Minimum an Schutz und Förderung, das die öffentliche Gewalt gewährleisten muss, bestimmt? Anerkannt ist, dass die öffentliche Gewalt insoweit einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum besitzt. In der Regel ist die öffentliche Gewalt daher nicht verpflichtet, eine bestimmte Maßnahme zu ergreifen. Die öffentliche Gewalt verletzt ihre Schutzpflichten vielmehr nur, wenn die von ihr ergriffenen Maßnahmen vollkommen unzureichend sind. Für die Beurteilung der Frage, ob die getroffenen Maßnahmen ausreichend sind oder nicht, sind neben den Rechtsgütern des betroffenen Grundrechtsberechtigten auch sonstige Interessen (z.B. die Grundrechte Dritter) zu berücksichtigen.
Beispiel[39]
Der Industrielle und Arbeitgeberpräsident S wird in K auf offener Straße von Terroristen entführt. Sie fordern die Freilassung von Gesinnungsgenossen und drohen, S andernfalls zu töten. Die Bundesregierung bemüht sich vielfältig, S freizubekommen. Auf die Forderung der Terroristen, Gesinnungsgenossen freizulassen, will sie sich aber nicht einlassen. – Die Bundesregierung unterliegt der sich aus dem Grundrecht auf Leben erwachsenden Pflicht, das dort garantierte Rechtsgut Leben zu schützen. Durch die Entführung des S ist dieses Rechtsgut gefährdet. Fraglich ist, ob die Bundesregierung das Untermaßverbot beachtet hat. Die Bundesregierung hat grundsätzlich einen weiten Entscheidungsspielraum hinsichtlich der Maßnahmen, die sie zur Erfüllung ihrer Schutzpflicht ergreift. Das Untermaßverbot verletzt sie daher nur, wenn sie vollkommen unzureichend handelt. Davon kann hier keine Rede sein, denn die Bundesregierung hat sich vielfältig bemüht, S freizubekommen. Der Forderung der Entführer, Gesinnungsgenossen freizulassen, muss die Bundesregierung nicht nachkommen.
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Dieses klassische Beispiel für eine staatliche Schutzpflicht erleichtert Ihnen nun das Verständnis dafür, wie Sie eine mögliche Schutzpflichtverletzung in der Fallbearbeitung prüfen. Es empfiehlt sich eine Prüfung in drei Schritten:
1. Im ersten Schritt untersuchen Sie, ob ein schutzfähiges Rechtsgut vorliegt. Da mittlerweile anerkannt ist, dass jedes in einem Freiheitsrecht garantierte Rechtsgut schutzfähig ist, können Sie diesen Prüfungspunkt schnell abhaken.
2. Liegt somit ein schutzfähiges Rechtsgut vor, prüfen Sie im zweiten Schritt, ob das geschützte Rechtsgut gefährdet ist.
3. Ist dies der Fall, gehen Sie im dritten Schritt der Frage nach, ob die öffentliche Gewalt das Untermaßverbot beachtet hat. Sie untersuchen, ob die öffentliche Gewalt ihre Schutzpflicht in ausreichendem Maße erfüllt hat. Beachten Sie dabei, dass die öffentliche Gewalt insoweit einen weiten Gestaltungsspielraum hat und gegen das Untermaßverbot nur und erst dann verstößt, wenn sie völlig unzureichende Maßnahmen ergreift.
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Im Bereich der Schutzpflichten kann sich das Problem stellen, ob die öffentliche Gewalt auch verpflichtet sein kann, einen Grundrechtsberechtigten vor sich selbst zu schützen. Das Problem besteht darin, dass die staatliche Schutzpflicht hier mit dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG kollidieren kann. Bei der Lösung dieses Problems muss differenziert werden: Bei Selbstgefährdungen wird tendenziell das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen und bei echten Gefahren (z.B. Suizid) tendenziell die staatliche Schutzpflicht (bei Suizid aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG – Rechtsgut Leben) Vorrang haben.
Beispiel[40]
Der erwachsene A ist kleinwüchsig. Als Artist hat er sich auf den sog. „Zwergenweitwurf“ spezialisiert. Bei seiner Berufsausübung ist er darauf angewiesen, vor Publikum aufzutreten, denn beim Zwergenweitwurf werfen Personen aus dem Publikum den Zwerg so weit wie möglich. Als A in München auftreten möchte, untersagt ihm die zuständige Behörde den Auftritt unter Berufung auf die Gewerbeordnung. Zu Recht? – Nach der Rechtsprechung ist die öffentliche Gewalt (hier die Exekutive) in einem derartigen Fall aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht gehalten, die Möglichkeiten, die sie bei ihrer Rechtsanwendung hat, auszuschöpfen, um einen derartigen Angriff auf die Würde des Menschen abzuwehren.[41] Hier besteht diese Abwehrmöglichkeit in der gewerberechtlichen Untersagung des Auftritts des A durch die zuständige Behörde.
c) Ausstrahlungswirkung (mittelbare Drittwirkung)
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Die Grundrechte binden gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an sich nur die öffentliche Gewalt. Die öffentliche Gewalt ist danach grundrechtsverpflichtet, während die Bürger grundrechtsberechtigt sind (sog. vertikale Geltung der Grundrechte). Gleichwohl ist anerkannt, dass die Grundrechte auch auf die Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern ausstrahlen (sog. horizontale Geltung der Grundrechte); dies folgt aus der Funktion der Grundrechte als objektiv-rechtliche Wertentscheidung (s.o. Rn. 12). Dabei ist zwischen der unmittelbaren und der mittelbaren horizontalen Geltung der Grundrechte zu unterscheiden: Die Grundrechte gelten horizontal nur ausnahmsweise unmittelbar. Ausdrücklich im Grundgesetz vorgesehen ist eine solche Geltung der Grundrechte nur in Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG sowie wohl auch in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 20 Abs. 4 GG. Im Übrigen strahlen die Grundrechte auf das Privatrecht aus und wirken zwischen den Bürgern lediglich mittelbar über die sog. zivilrechtlichen Generalklauseln und die unbestimmten Rechtsbegriffe (sog. Ausstrahlungswirkung bzw. mittelbare Drittwirkung).[42] Hierzu gehören z.B. § 138 BGB (gute Sitten), § 242 BGB (Treu und Glauben), § 826 BGB (sittenwidrige Schädigung); § 23 Abs. 2 KUG (berechtigtes Interesse). Die Generalklauseln und die unbestimmten Rechtsbegriffe sind jeweils im Lichte der einschlägigen Grundrechte auszulegen und anzuwenden.
Beispiel
K besucht regelmäßig die Spielbank in Baden-Baden und spielt dort Automatenspiele. Er beantragt bei der Spielbank eine „Eigensperre“. Danach soll die Spielbank ihn vom weiteren Spielen ausschließen, wenn er 5000 € verloren hat. Die Spielbank akzeptiert seinen Antrag. Als an einem Abend diese Verlusthöhe bei K erreicht ist, reagiert die Spielbank nicht, sondern lässt ihn weiterspielen. Am Ende des Spielabends hat K 8000 € verloren. – Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs kann eine Spielbank bei einer antragsgemäß verhängten Spielsperre Schutzpflichten haben, die auf Wahrnehmung der Vermögensinteressen ihrer Gäste gerichtet sind.[43] Dies folge aus der Auslegung einer entsprechenden vertraglichen Abrede zwischen Spieler und Spielbank (§§ 133, 157 BGB). Sinn der vertraglichen Abrede, dass die Spielbank ab einer bestimmten Verlustsumme den Abschluss weiterer Spielverträge ablehne, sei, dass der zur Spielsucht neigende Gast sich selbst schützen wolle, indem er sich mit Hilfe der Spielbank den für ihn als gefahrträchtig erkannten Zugang verstellen wolle.
4. Verfahrens- und organisationsrechtliche Funktionen der Grundrechte
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Die verfahrens- und organisationsrechtlichen Funktionen der Grundrechte liegen quer zu den subjektiv- und objektiv-rechtlichen Funktionen der Grundrechte.[44] Man kann sie deshalb als Hilfsfunktionen bezeichnen.[45]
a)