Zehntes Kapitel Kommunalrecht › § 64 Kommunalverfassung › E. Das Recht der Landkreise
E. Das Recht der Landkreise
227
In allen Flächenländern existiert oberhalb der Gemeindeebene ein weiterer kommunaler Verwaltungsträger, der in den einschlägigen Landesgesetzen überwiegend als Landkreis[681], teilweise als Kreis[682] bezeichnet wird. Nicht kreisangehörig sind – je nach landesgesetzlicher Gestaltung – die kreisfreien Städte bzw. kreisfreien Gemeinden oder sog. Stadtkreise[683]. Rechtsstellung, Aufgaben und Binnenorganisation dieser Selbstverwaltungskörperschaften entsprechen nicht zufällig grundsätzlich der Verfassung der Gemeinden, denn im kreisangehörigen Raum bilden Gemeinden und Landkreis zusammen die kommunale Selbstverwaltung ab.[684] Dabei kommt den Kreisen mit Blick auf den demographischen Wandel und die Verstädterung bzw. Urbanisierung eine Schlüsselstellung bei der Entwicklung ländlicher Räume zu[685].
I. Rechtsstellung
228
Die Kreise werden von den Kreisordnungen der Bundesländer als Gemeindeverbände und Gebietskörperschaften definiert[686]. Die Kreise sind Gebietskörperschaften, deren Mitglieder nicht die kreisangehörigen Gemeinden, sondern die (wahlberechtigten) Kreiseinwohner sind und deren Gebiet sich aus der Gesamtheit der kreisangehörigen Gemeinden zusammensetzt[687]. Gegenüber den sich im Kreisgebiet aufhaltenden Personen übt der Kreis im Rahmen der ihm zugewiesenen Aufgaben originäre Hoheitsgewalt aus. Darüber hinaus lassen sich die Kreise insofern als Gemeindeverbände verstehen, nämlich als sog. Bundkörperschaften[688], als ihnen im Verhältnis zu den kreisangehörigen Gemeinden verbandstypische Ergänzungs-, Unterstützungs- und Ausgleichsaufgaben obliegen[689]. Die Rechtsfähigkeit folgt aus der Eigenschaft als juristische Person des öffentlichen Rechts in Gestalt einer Körperschaft[690].
229
Als Gemeindeverband haben auch die Kreise das Recht der Selbstverwaltung. Dies folgt ausdrücklich aus Art. 28 Abs. 2 S. 2 GG. Im Vergleich zu den Gemeinden ergeben sich jedoch Unterschiede in der Schutzdichte. In Bezug auf die Rechtssubjektgarantie steht fest, dass es grundsätzlich zur Auflösung einzelner Körperschaften bzw. Gebietsänderung durch den Gesetzgeber kommen kann, soweit die formellen und materiellen Anforderungen erfüllt sind. Fraglich ist indes, ob es vor dem Hintergrund des Art. 28 Abs. 2 S. 2 GG, der allgemein von Gemeindeverbänden, aber nicht von Kreisen spricht, zu einer vollständigen Beseitigung der Institution Kreis kommen kann. Dies ist wohl in Zusammenschau mit Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG zu verneinen[691].
230
Was die Rechtsinstitutionsgarantie anbelangt, können Kreise für das Kreisgebiet nur eine „gesetzlich geformte Zuständigkeit“ in Anspruch nehmen[692]. Im Vergleich zur Gewährleistung für die Gemeinden besteht der Unterschied, dass dem Kreis zwar die Eigenverantwortlichkeitsgarantie samt allen Hoheiten zukommt, hingegen der Schutz des Aufgabenbestands schwächer ausgeprägt ist. Das Grundgesetz sichert den Kreisen nur einen „gesetzlichen Aufgabenbereich“ zu, so dass der Gewährleistungsbereich um das Kernbereichselement der Allzuständigkeit gekürzt ist[693]. Eine Änderung des gesetzlichen Aufgabenbestandes der Kreise hat deshalb grundsätzlich keine verfassungsrechtliche Implikation[694]. Dies hat allerdings nicht zur Folge, dass der Gesetzgeber völlig frei ist in der Zuordnung von Aufgaben an den Kreis; vielmehr muss den Kreisen ein Mindestbestand an kreiskommunalen Aufgaben zugeordnet sein[695]. Eine Selbstverwaltung im Sinne eigener, unmittelbar gewählter politischer Legitimationsbasis muss sich dafür „lohnen“[696]. Allerdings verletzt der Gesetzgeber den Kernbereich des Art. 28 Abs. 2 S. 2 GG, wenn die Übertragung einer staatlichen Aufgabe die Verwaltungskapazitäten der Landkreise so sehr beansprucht, dass sie nicht mehr ausreichen, um einen angemessenen Mindeststandard an Selbstverwaltungsaufgaben wahrzunehmen[697]. Zugunsten der Gemeinden greift insoweit auch und gerade gegenüber den Kreisen das gemeindliche Aufgabenverteilungsprinzip durch, so dass Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft nur aus spezifischen Gemeinwohlgründen auf die Kreise hochgezont werden dürfen und das Zugriffsrecht für noch unbesetzte Aufgaben bei den Gemeinden liegt[698]. Ohne weitere Einschränkungen gilt für die Landkreise die Garantie der eigenverantwortlichen Wahrnehmung der gesetzlich überantworteten Aufgaben. Ihnen stehen damit die sog. Gemeindehoheiten entsprechend zu, weil ohne Personal, Finanzen, Organisation und Rechtsetzung kreiskommunale Verwaltung der Mitglieder nicht möglich wäre.
231
Schließlich ist den Kreisen die Rechtssubjekts- und Rechtsinstitutionsstellung auch subjektiv garantiert, d.h. sie sind wehrfähig.
II. Aufgaben
232
Das Verständnis der Aufgabenverteilung zwischen Land und Kreis hängt größtenteils davon ab, ob das jeweilige Land hinsichtlich der gemeindlichen Zuständigkeit vom monistischen oder dualistischen Aufgabenmodell ausgegangen ist. Demzufolge wird auch auf Kreisebene zwischen Selbstverwaltungsangelegenheiten einerseits und Pflichtaufgaben nach Weisung oder Auftragsangelegenheiten andererseits unterschieden. Problematisch ist insoweit v.a. in Bezug auf den eigenen Wirkungskreis der Gemeindeverbände die Abgrenzung ihrer kreiskommunalen Aufgaben von den örtlichen Angelegenheiten der kreisangehörigen Gemeinden.
1. Selbstverwaltungsaufgaben
233
Originäre Aufgaben der Kreise sind kreisgebietsbezogene Aufgaben, die den Bestand und die Funktion der Landkreise erst begründen und gewährleisten. Beispiele dafür sind die Haushalts- und Personalverwaltung, die Vermögensverwaltung oder die Selbstrepräsentation[699]. In der Sache stehen den Landkreisen von Gesetzes wegen grundsätzlich die überörtlichen Angelegenheiten, Ausgleichs- und Ergänzungsaufgaben als Selbstverwaltungsaufgaben offen. Neben diese freiwilligen treten ggf. pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben wie etwa Aufgaben des örtlichen Sozial- und Jugendhilfeträgers, die Straßenbaulast für Kreisstraßen, Trägerschaft weiterführender Schulen, Zuständigkeiten der Abfallentsorgung und der Krankenhausversorgung.
234
Ferner hat der Gesetzgeber die Möglichkeit, den Kreisen unter Beachtung der Verfassungsmaßstäbe gemeindliche Aufgaben zuzuweisen. Örtliche Angelegenheiten dürfen vom Kreis erst dann wahrgenommen werden, wenn diese gesetzlich hochgezont, also den Gemeinden zugunsten der Kreise entzogen worden sind. Dies ist nur zulässig, wenn tragende Gründe des Gemeinwohls das Aufgabenverteilungsprinzip des Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG überwiegen[700].
235
Wenn und soweit es an einer speziellen gesetzlichen Zuordnung fehlt, greift die allgemeine aufgabenbezogene Verteilungsregel der einschlägigen Kreisordnung ein, die eine subsidiäre Verbandskompetenz der Landkreise auch für örtliche Angelegenheiten begründen kann[701]. Damit sind konkrete Abgrenzungsfragen aber noch nicht beantwortet. In einigen Bundesländern ist zur Klärung der Zuständigkeit zwischen Kreis und Gemeinde ein besonderer Entscheidungsmodus in Gestalt des sog. Kompetenz-Kompetenz-Verfahrens verankert[702].
a) Übergemeindliche Aufgaben
236
Überörtliche bzw. übergemeindliche Aufgaben entziehen sich schon ihrer Natur nach der Wahrnehmung durch einzelne Gemeinden je für sich (z.B.