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Im Bereich der Haftung zeigte der Conseil d’État „eine allergrößte Gewissenhaftigkeit in Bezug auf die Verpflichtungen der Gemeinschaft gegenüber dem Bürger, den die Maßnahme der öffentlichen Gewalt in seinen Rechten verletzt hat“[51]. Er nahm an, dass bereits ein einziger Fehler, der von der Verwaltung begangen wird, zugleich die persönliche Haftung des Handelnden und der zuständigen öffentlichen Körperschaft auslösen kann (Epoux Lemonnier-Urteil vom 26. Juli 1918), wodurch er dem System der Haftungskumulation, das nach wie vor grundlegend ist, endgültig zum Durchbruch verhalf.[52] Die Haftung für rechtmäßiges Verhalten (responsabilité sans faute) der öffentlichen Körperschaften wurde vom Conseil d’État erstmals im Anschluss an die Explosion eines Munitionsdepots bejaht (Regnault-Desroziers-Urteil vom 28. März 1919). Sie wurde seitdem erheblich ausgebaut: Die Haftung ist möglich im Falle eines besonderen Risikos, das durch eine gefährliche Situation, beispielsweise durch eine gefährliche Sache oder Aktivität, hervorgerufen wird.[53]
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Auf derselben Linie liegt es, dass der Conseil d’État die Haftung der Verwaltung wegen eines Gleichheitsverstoßes im Hinblick auf die Verteilung öffentlicher Lasten zugelassen hat (Couitéas-Urteil vom 30. November 1923). Dies betrifft den Fall, dass die Verwaltung nicht die Maßnahmen ergriffen hat, die sie normalerweise hätte treffen müssen, oder dass sie zwar rechtmäßige Maßnahmen durchgeführt hat, diese aber bestimmte Personen in besonderer und außergewöhnlicher Weise belasten. Auf dieser Rechtsprechung basiert die Annahme einer Verantwortlichkeit des Staates für rechtsetzendes Handeln.[54]
2. Die industriellen und kommerziellen services publics
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Die Aktivitäten, die nunmehr der Staat und andere öffentliche Entitäten als Unternehmer in Bereichen entfalteten, die traditionell dem privatwirtschaftlichen Handeln zugerechnet werden, führten zu dem Begriff der „services publics industriels et commerciaux“. Wegweisend war das Urteil des Tribunal des conflits in der Rechtssache Société commerciale de l’Ouest africain vom 22. Januar 1921. Die Kolonie der Elfenbeinküste hatte für die Querung einer Lagune einen kostenpflichtigen Fährbetrieb eingerichtet. Nachdem sich ein Unfall ereignet hatte, kam die Frage auf, wer zur Entscheidung über den Rechtsstreit zuständig sei. Das Tribunal des conflits erklärte die ordentliche Gerichtsbarkeit für zuständig, weil die Kolonie „ein Transportgeschäft unter den gleichen Konditionen wie ein gewöhnlicher Unternehmer betreibt“.[55] Der Conseil d’État schlussfolgerte daraus, dass eine neue Kategorie der services publics im organisatorischen Sinne existiert, die keinen administrativen, sondern einen gewerblichen oder kommerziellen Charakter aufweist. Diese services publics unterfallen grundsätzlich dem Privatrecht, jedoch genießt ihr leitendes und finanziell verantwortliches Personal einen öffentlich-rechtlichen Status; auch können Verwaltungsverträge abgeschlossen werden, was zur Folge hat, dass das Verwaltungsrecht Anwendung findet.[56]
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Die Kategorie der services publics industriels et commerciaux hat zahlreiche praktische Schwierigkeiten aufgeworfen und scharfsinnige theoretische Debatten hervorgerufen. Sie versetzte der Schule des service public von Duguit und denjenigen, die im Begriff des service public das Fundament des gesamten Verwaltungsrechts erblickten, wie Gaston Jèze, Roger Bonnard oder Louis Rolland, einen Schlag. Nunmehr unterfielen services, die zu den Verwaltungen gehören, wegen der Natur ihrer Tätigkeit dem Privatrecht. Und diese services sollten infolge von Verstaatlichungsmaßnahmen seitens der Front Populaire im Jahre 1936, im Zuge der gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erfolgten Libération und während des Beginns der Präsidentschaft von François Mitterrand in den Jahren 1981 bis 1982 immer zahlreicher werden. Hinzu kommt, dass der Conseil d’État im Jahre 1938 entschied, dass eine private Organisation, im vorliegenden Fall eine Sozialversicherungskasse, mit der Ausführung eines service public beauftragt werden kann; der Ausdruck „service public“ wurde dabei im materiellen Sinne eines Handelns im Allgemeininteresse verwendet. Derartige Organisationen, deren Zahl einerseits durch die Gesetzgebung und andererseits durch eine subtile Rechtsprechung vermehrt werden sollte, wurden einem Rechtsregime unterstellt, das teilweise die Anwendung des Verwaltungsrechts und die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit sich brachte.[57] Diese beiden großen Entwicklungen in der Jurisprudenz bedeuteten das Ende für die berühmte Definition von Jèze, wonach das Verwaltungsrecht „die Gesamtheit der Rechtssätze [ist], die sich auf die services publics beziehen“.[58] „Die Krise des Begriffs des service public“, die sich auch auf andere Begriffe auswirkte, wie diejenigen der öffentlichen Anstalt (établissement public) oder des öffentlichen Beamten (fonctionnaire public), rief reichlich Literatur und lebhafte Kontroversen hervor, auch wenn Urteile, die der Conseil d’État in den Jahren 1954 bis 1956 fällte, „diesen Begriff sanierten, wie man ein historisches Stadtviertel restauriert“[59].
3. Die Statuten des öffentlichen Dienstes
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Mit Blick auf den öffentlichen Dienst nahm der Conseil d’État zunächst an, die Beamten seien durch einen „öffentlich-rechtlichen Vertrag“ an die Verwaltung gebunden. Zwischen den beiden Kriegen gab er dann diese Vorstellung zugunsten der statutarischen Konzeption auf, die im Schrifttum bereits vor 1914 formuliert worden war.[60] Das Parlament verabschiedete allerdings lediglich einige partielle Beamtenstatute, die auf die kommunalen Bediensteten Anwendung fanden. Das erste Statut für den öffentlichen Dienst des Staates wurde am 14. September 1941 unter dem Vichy-Regime erlassen (statut général des fonctionnaires civils de l’Etat et des établissements publics de l’Etat). Dieses Statut, inspiriert von autoritärem Gedankengut, griff zu Lasten der Beamten den strengsten, früher vertretenen Aspekt der Rechtsprechung des Conseil d’État wieder auf: den Verlust aller Rechte im Streikfall. Es schränkte darüber hinaus die Vereinigungsfreiheit ein und sah eine strenge Verpflichtung zur Mäßigung und Zurückhaltung vor. In anderen Punkten wurde die aktuelle Rechtsprechung des Conseil d’État kodifiziert.[61]
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Nach Kriegsende wurde es durch das Beamtenstatut (statut général des fonctionnaires) ersetzt, das Teil des Gesetzes vom 19. Oktober 1946 und weitgehend das Werk des damaligen Ministers für den öffentlichen Dienst (ministre de la Fonction publique), des Kommunistenführers Maurice Thorez, war. Dieses Statut erkannte den Bediensteten des Staates das Recht zu, Gewerkschaften zu gründen, die sich sogar an der Personalverwaltung, der Organisation und den Arbeitsabläufen der Verwaltung beteiligen sollten. Das Statut traf jedoch keine Aussage in Bezug auf das Streikrecht, obgleich die Präambel der Verfassung von 1946 als Grundsatz formuliert hatte, dass dieses „im Rahmen der Gesetze, die es reglementieren“, ausgeübt werde. Es scheint, als ob Thorez davon ausgegangen ist, dass dieses Recht aus dem gewerkschaftlichen Recht folgt. Der Conseil d’État sah sich deshalb zu der Äußerung veranlasst: Während der Zeit des Wartens auf die Gesetze, welche die Ausübung des Streikrechts regeln, kann die Regierung, die für das „gute Funktionieren der services publics verantwortlich ist“, selbst die Grenzen dieser Ausübung festlegen (Dehaene-Urteil vom 7. Juli 1950).[62] Diese Entscheidung, deren Reichweite auf das Personal der kommunalen Gebietskörperschaften und der services publics industriels et commerciaux erstreckt wurde, bildete die Grundlage einer sehr nuancierten Rechtsprechung.[63]
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Das Inkrafttreten der Verfassung der Fünften Republik von 1958 führte