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Die Erweiterung des Zugriffs auf das Privateigentum äußerte sich in zweifacher Hinsicht. Zum einen wurde das Eigentum an bestimmten Immobilien im Namen des Allgemeininteresses einem besonderen Rechtsregime unterstellt. Dies war der Fall bei Wäldern, Mooren und Bergwerken. Zum anderen wurden die Verfahren, die es gestatteten, Privatpersonen ihre Güter zu entziehen, zugunsten der Verwaltung erleichtert. Dies betraf die Bereiche der Beschlagnahmung, der Arrondierung und der Enteignung (im letztgenannten Fall zumindest von 1807 bis 1810).
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Die Beamten waren ihren Dienstvorgesetzten strikt untergeordnet. Zur Verantwortung gezogen werden konnten sie von den administrés überhaupt nicht und selbst von der Staatsanwaltschaft der ordentlichen Gerichtsbarkeit nur unter engen Voraussetzungen. All denjenigen, welche den Status eines „Beauftragten der Regierung (agent du Gouvernement)“ besaßen, wurde durch Art. 75 der Verfassung des Jahres VIII ein besonders starker Schutz zuerkannt: Sie konnten für Handlungen, die im Zusammenhang mit ihren amtlichen Funktionen standen, nur aufgrund einer Entscheidung des Conseil d’État verfolgt werden. Dieser Schutz, der „garantie des fonctionnaires“ genannt wurde, sollte nach Einschätzung liberaler Autoren wie Benjamin Constant 250 000 Mitgliedern der Verwaltung zugute kommen[18] (die übrigen Amtsinhaber profitierten weiterhin von Bestimmungen aus der Zeit der Revolution, welche die Möglichkeit einschränkten, gegen sie zivil- und strafrechtliche Sanktionen zu verhängen).
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Der Conseil d’État und die Cour de cassation legten das die agents du Gouvernement privilegierende Merkmal der „im Zusammenhang mit ihren amtlichen Funktionen stehenden Handlungen“ weit aus. Sie vertraten die Ansicht, dass es ausreichte, dass die Handlung, die der administré zur Anzeige brachte, während der Ausübung der amtlichen Funktionen vorgenommen worden war, um das Erfordernis einer Genehmigung seitens des Conseil d’État zu begründen, selbst wenn die Handlung ihrer Natur nach funktionsfremd war. Erst im Jahre 1864 modifizierte die Cour de cassation ihre Rechtsprechung in diesem Punkt. Sie hat es allerdings stets abgelehnt, Art. 75 der Verfassung des Jahres VIII allein auf Fälle einer strafrechtlichen Verfolgung und nicht auch auf solche, in denen der Amtsinhaber zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen werden sollte, anzuwenden.
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Der Conseil d’État traf, in der Terminologie des Art. 75 der Verfassung des Jahres VIII, die „Entscheidung“, die Genehmigung einer Verfolgung bzw. Inanspruchnahme des agent du Gouvernement zu erteilen oder zu versagen. Napoleon war indes der Auffassung, dass ihm die Befugnis zukam, der Entscheidung, die der Conseil d’État getroffen hatte, zuzustimmen oder auch nicht, und zwar im Wege einer Ausweitung des Systems der „justice retenue“. Im Rückblick lässt sich sagen, dass der Conseil d’État sich nicht so zurückhaltend gezeigt hat, eine Genehmigung dafür zu erteilen, dass gerichtliche Schritte gegen einen agent du Gouvernement unternommen werden konnten, wie ihm dies seinerzeit vorgeworfen wurde. Er war jedoch nicht verpflichtet, seine Versagung einer Genehmigung zu begründen, was die Position der administrés schwächte. Der Mechanismus der „garantie des fonctionnaires“, an dem die Cour de cassation auch nach dem Untergang des Ersten Kaiserreichs (1804–1815) festhielt, rief scharfe Kritik hervor. Alexis de Tocqueville versicherte, dass ein Engländer oder Amerikaner ihn nicht verstehen könne. Dennoch bestand der Mechanismus bis zum Ende des Zweiten Kaiserreichs (1852–1870) fort.[19]
2. Die Einräumung rechtlicher Garantien zugunsten der administrés
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Im Gegenzug zur Ausweitung der Sonderrechte der Verwaltung räumte Napoleon den administrés rechtliche Garantien ein. Vielleicht tat er dies, weil er die Meinung teilte, die der Berichterstatter eines Gesetzesvorhabens über die Trockenlegung der Moore, der Abgeordnete des Corps législatif Henri de Carrion-Nisas, geäußert hatte: „Die beste Verwaltung ist diejenige, welche am schnellsten das öffentliche Interesse gegenüber dem privaten durchzusetzen vermag, allerdings unter Einsatz rechtmäßiger Mittel.“[20] Napoleon sah sich in vielfacher Hinsicht als Erbe der Revolution und der Ideen der Aufklärung, wie ein Großteil der Personen in seinem Umfeld. Die Rücksichtnahme auf die Rechte der administrés erfolgte jedoch auch aus politischem Kalkül, nämlich aus der Absicht heraus, seine persönliche Macht zu festigen.[21]
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Die Garantien, die den administrés eröffnet wurden, sollten sich in erster Linie aus leistungsfähigen Organisationsstrukturen und gut ineinander greifenden Arbeitsabläufen der Verwaltung ergeben. Die staatliche Vormundschaft, welche die kommunalen Räte äußerst schwer belastete, sollte die Einwohner der Gemeinden schützen. Die meisten Beschlüsse der Kommunen waren erst nach der Genehmigung durch den Präfekten vollziehbar, und zudem konnte sich jeder mit einer Beschwerde über Unregelmäßigkeiten an den Präfekten wenden. Die Aufsichtsbeschwerde stand den administrés unter vergleichbaren Voraussetzungen offen. Allerdings erkannte selbst Napoleon an, dass beide Arten von Beschwerden den öffentlichen Beauftragten, deren Entscheidungen bei ihren Vorgesetzten gerügt wurden, allzu viele Vorteile beließen, weil es ihnen regelmäßig nicht schwer fiel, diese von der Rechtmäßigkeit ihrer Maßnahmen zu überzeugen.
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Durch verschiedene Gesetze und Verordnungen wurden daher minutiös geregelte nichtgerichtliche Rechtsbehelfsverfahren eingerichtet. Dies war der Fall im Zusammenhang mit der Begradigung der Straßen, der Trockenlegung der Moore, den Konzessionen für Bergwerke sowie der Inbetriebnahme störender oder gar gesundheitsschädigender Werkstätten oder Manufakturen. Bisweilen wurde sogar die Möglichkeit zur Anrufung der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorgesehen, um den Rechtsschutz zu verbessern. Der Fall, bei dem dies besonders deutlich wurde, war derjenige der Enteignung. Napoleon ließ das Gesetz vom 8. März 1810 aufsetzen, das den Zivilrichter dazu ermächtigte, die Rechtmäßigkeit des durchgeführten Enteignungsverfahrens zu überprüfen und die Entschädigungssumme festzusetzen, die an den bisherigen Eigentümer zu zahlen war.
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Im selben Jahr gestattete die Cour de cassation, dass die Strafgerichte auf eine entsprechende Einrede hin untersuchen konnten, ob kommunale Polizeiverordnungen im Einklang mit gesetzlichen Vorschriften standen. Wenngleich sie derartige Verordnungen aufgrund von Verboten, die in den bereits erwähnten Revolutionsgesetzen niedergelegt waren, nicht aufheben konnten, so waren sie doch befugt, deren rechtliche Wirkungen auszusetzen. Diese Innovationen trugen dazu bei, dass der Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit gleichsam zu dem „natürlichen“ Richter im Bereich des Immobilieneigentums wurde und im Strafprozess die Gesetzmäßigkeit von Verordnungen untersuchen konnte.
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Schließlich konstituierten Verbesserungen in Bezug auf den Umgang des Conseil d’État und der Conseils de préfecture mit Verwaltungsstreitigkeiten eine Rechtsschutzgarantie für die administrés. Diese Garantie hat die Entwicklung einer Gerichtsbarkeit, die den administrés günstig gewogen war, erleichtert, auch wenn diese Entwicklung im Verlauf des 19. Jahrhunderts aus der Retrospektive gelegentlich als zu langsam und unzureichend erscheint.
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Der emblematischste Schritt in der Rechtsprechungsentwicklung war die Einführung der Anfechtungsbeschwerde (recours pour excès de pouvoir). Der