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Dem öffentlichen Dienst gehörten im Jahre 2008 1,56 Millionen Beamte, 21826 Richter, 183 571 Zeit- und Berufssoldaten sowie 2,54 Millionen sonstige Arbeitnehmer an. Während sich Beamte, Richter und Soldaten beim Bund mit den Angestellten und Arbeitern etwa die Waage halten, sind die Beamten in den Kommunen bis auf wenige Restbestände verschwunden.[178] Ihre Verwendung erfolgte nach 1949 trotz des in Art. 33 Abs. 4 GG enthaltenen Funktionsvorbehalts in der Regel unreflektiert und konzeptionslos. Es kann daher nicht verwundern, dass die aus der Monarchie übernommene Institution des Berufsbeamtentums ungeachtet ihrer rechtsstaatlichen und demokratischen Gewährleistungsfunktion seit den 1970er Jahren zunehmend unter Druck geraten ist.[179]
b) Die Stellung der Verwaltung im Staatsgefüge
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Blickt man auf die horizontale Gewaltenteilung und auf das Verhältnis der Exekutive zu Legislative und Judikative, so ist unverkennbar, dass das Grundgesetz darauf angelegt ist, die Exekutive, verglichen wohlgemerkt mit den exekutivlastigen früheren deutschen Verfassungen, stärker einzubinden, selbst wenn die Regierung und gerade das Amt des Bundeskanzlers weiterhin machtvoll ausgestaltet sind. Auch lebt das alte Verständnis fort, wonach die Verwaltung die Substanz des Staates ausmacht. Dies zeigt anschaulich ihre weiterhin vorherrschende Bestimmung über die Subtraktionsdefinition, nach der all jene Formen und Organisationen von Hoheitsgewalt zur Verwaltung zählen, die nicht Gesetzgebung, Regierung oder Rechtsprechung sind.[180] Es gilt also: Verwaltung ist der Normalfall von Staatlichkeit.
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Die öffentliche Verwaltung verfügt nach 1949 jedoch nicht mehr über viele frühere Machtinstrumente. Insbesondere ihre Rechtsetzungsbefugnisse erscheinen im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union schwach (Art. 80 Abs. 1 GG, Wesentlichkeitsdoktrin),[181] und sie ist, was noch wichtiger ist, einer weitgehend lückenlosen gerichtlichen Kontrolle unterworfen. Zudem besitzt die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen einen belasten (Verwaltungs-) Akt, im Gegensatz zu den meisten anderen Rechtsordnungen, grundsätzlich aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO]); der Grundsatz wird allerdings zunehmend durch Ausnahmen aufgeweicht.[182]
c) Funktionen von Verwaltung und Verwaltungsrecht nach 1949
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Versucht man die Entwicklung der öffentlichen Verwaltung in ihrer „klassischen“ Epoche unter dem Grundgesetz bis 1990 zu strukturieren, so lassen sich verschiedene Phasen unterscheiden, in denen sich die wirtschaftliche und soziale Entwicklung jener Jahre spiegelt.[183] Nach einer Periode der rechtsstaatlichen Konsolidierung treten im Gefolge des „Wirtschaftswunders“ Ende der 1960er Jahre leistungs-[184] und planungsrechtliche Fragen in den Vordergrund, die Ausdruck eines enormen Vertrauens in die wirtschaftliche und technische Leistungsfähigkeit der Gesellschaft und in die Möglichkeiten staatlicher Steuerung sind. Schon bald weicht diese Zuversicht jedoch der Ernüchterung, mit erheblichen Konsequenzen für die öffentliche Verwaltung. So werden die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit sichtbar, Entscheidungen – etwa im Atom- und Fachplanungsrecht – verlieren an Akzeptanz. Ab Mitte der 1970er Jahre findet sich die öffentliche Verwaltung vor allem im neu entstehenden Referenzgebiet des Umweltrechts,[185] aber auch im Technik- und Planungsrecht mehr und mehr in der Rolle eines Schiedsrichters wieder, der die Interessengegensätze zwischen den Beteiligten im Rahmen multipolarer Verwaltungsrechtsverhältnisse ausgleichen und Zustimmung für das (im Gesetzgebungs- und Verwaltungsverfahren konkretisierte) staatliche Interesse finden muss.
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Otto Mayer hatte die zentrale Aufgabe des Verwaltungsrechts darin gesehen, die „flutende Masse der Verwaltungstätigkeit einzudämmen“.[186] Darauf besinnt man sich nach der Katastrophe der nationalsozialistischen Herrschaft und macht sich entschlossen an die Konsolidierung und Perfektionierung einer rechtsstaatlichen öffentlichen Verwaltung und des sie steuernden Verwaltungsrechts. Die Jahre nach 1949 erscheinen auch in dieser Hinsicht weniger als Bruch mit den Traditionslinien der deutschen Verwaltungsentwicklung denn als konsequente Fortsetzung eines bereits im Kaiserreich eingeschlagenen Weges. Dieser stellte angesichts des ihm zugrunde liegenden Kompromisses zwischen monarchischem und demokratischem Prinzip tendenziell ein deutsches Spezifikum dar und sollte es auch nach dem Zweiten Weltkrieg bleiben, bis die Herausbildung des europäischen Rechtsraums eine Fusion rechtsstaatlicher und demokratischer Traditionslinien auf die Tagesordnung gesetzt hat. Zunächst prägen jedoch eine tiefgreifende Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts (2), der Ausbau des (verwaltungs-)gerichtlichen Rechtsschutzes (3) und ein erst nach der Wiedervereinigung allmählich wahrgenommenes demokratisches Defizit (4) die „klassische“ Gestalt der modernen deutschen Verwaltung und des Verwaltungsrechts. In einer wirkungsmächtigen Interpretation begreift Rainer Wahl Umfang und Tiefe von Verrechtlichung, Konstitutionalisierung und Judizialisierung gar als Merkmale eines deutschen Sonderwegs, der im europäischen Rechtsraum auf dem Prüfstand steht.[187]
2. Die Konstitutionalisierung von Verwaltung und Verwaltungsrecht
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Dem Diktum Otto Mayers über die verfassungsrechtliche Neutralität des Verwaltungsrechts erteilt das Grundgesetz eine klare Absage. Indem es erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte eine auch im europäischen Vergleich jener Zeit ungewöhnliche unmittelbare Bindung aller Staatsgewalten, auch des Gesetzgebers, an die Grundrechte anordnet (Art. 1 Abs. 3 GG), entzieht es einem Selbststand des einfachen Rechts, auch des Verwaltungsrechts, den Boden[188] und legt damit die Grundlage für einen Konstitutionalisierungsprozess, der erst zu Beginn der 1990er Jahre seinen Höhepunkt erreichen sollte.[189] Diese Transformation hat durchaus Anlass zu Kritik gegeben. Ernst Forsthoff sah sich schon 1971 zu der polemischen Aussage veranlasst, die Bundesrepublik sei, weil es ihr an „Souveränität im Sinne der höchsten und fortdauernden Gewalt“ fehle, „kein Staat im hergebrachten Sinne“ mehr: Im 19. Jahrhundert hätte einen solchen Staat „ein leiser Hauch der Geschichte dahingeweht“.[190]
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Die Konstitutionalisierung[191] des deutschen Verwaltungsrechts ist vor allem die Geschichte seiner „Vergrundrechtlichung“.[192] Im Zusammenspiel mit den formellen Aspekten des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG), mit der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, dem Vorrang und dem Vorbehalt des Gesetzes, wird die entschiedene Ausrichtung der Rechtsordnung auf die Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen ins Werk gesetzt. Die Grundrechte durchdringen nahezu jeden Winkel der Rechtsordnung, und jeder bedeutendere Akt der Rechtspolitik wird in einen Ableitungszusammenhang zur Verfassung gebracht.[193] Dies birgt ein erhebliches Konfliktpotenzial für den europäischen Rechtsraum, dessen Verwaltungsrecht nicht in gleicher Weise durch diktatorische Erfahrungen unterlegt ist.
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Dogmatische Grundlage dieser Entwicklung ist zum einen, dass sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Elfes-Urteil von 1957[194] auf einen weiten Schutzbereich der Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG, später als Allgemeine Handlungsfreiheit interpretiert) festlegt, mit der Folge, dass jede dem Staat zurechenbare Belastung aus der Sicht des Bürgers einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff darstellt und ihm daher, gestützt auf Art.