d) Die Bewältigung des informalen Verwaltungshandelns
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Nur mit erheblichen Verzögerungen wagte sich das deutsche Verwaltungsrecht schließlich an die rechtsstaatliche Bändigung des „informalen Verwaltungshandelns“. Damit sind nicht nur Realakte gemeint, sondern insbesondere die seit den 1980er Jahren immer stärker um sich greifende Informationstätigkeit der öffentlichen Hand. Die wegweisende Habilitationsschrift von Hans-Ulrich Gallwas aus dem Jahre 1970[229] blieb lange Zeit unbeachtet, bis sie das Bundesverwaltungsgericht in seiner Transparenzlisten-Entscheidung von 1987[230] entdeckte und zu einem zentralen Referenzwerk machte, das vielfältige literarische Gefolgschaft gefunden hat.[231] Die Vollendung der rechtsstaatlichen Konsolidierung ist in jüngster Zeit allerdings stecken geblieben, seit das Bundesverfassungsgericht in seiner Glykol-Entscheidung zwar die Existenz faktischer Grundrechtsbeeinträchtigungen akzeptiert, die Sicherungen des formellen Rechtsstaates, insbesondere den Vorbehalt des Gesetzes, jedoch für unanwendbar erklärt hat.[232]
3. Ausbau und Vervollständigung des Individualrechtsschutzes
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Hand in Hand mit der Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts unter dem Grundgesetz geht der Ausbau des Individualrechtsschutzes. Dies akzentuiert den materiell rechtsstaatlichen Zugang des „klassischen“ deutschen Verwaltungsrechts und findet in der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ebenso Ausdruck (a) wie in der Einführung der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel (b) und in einer flächendeckenden Subjektivierung des Verwaltungsrechts (c). Anders als etwa in Frankreich oder Österreich gilt die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung nicht als Durchbrechung,[233] sondern als wesentlicher Ausdruck der Gewaltenteilung. Dieses deutsche Verständnis erschwert es, die Verwaltungsgerichte als gestaltende Institutionen öffentlicher Gewalt zu begreifen.[234] Eine weitere Abschirmung gegenüber legitimatorischen Nachfragen erfolgt durch die „Doktrin von der einzig richtigen Interpretation“, der wichtigsten dogmatischen Basis der hohen verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte und, so Rainer Wahl, ebenfalls eine Besonderheit des deutschen Rechts.[235] Obgleich die Unhaltbarkeit dieser Doktrin theoretisch seit langem erwiesen ist und damit die gestaltende und verwaltende Rolle der Gerichte außer Frage steht,[236] hält sie sich, wohl weil sie kongenial zur Justizialisierung ist. Erkennt man aber ihre Brüchigkeit, so erscheint eine geringere gerichtliche Kontrolldichte in anderen Mitgliedstaaten und auf der europäischen Ebene in anderem, freundlicherem Licht.
a) Die Rechtsschutzgarantie
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Mit der Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) trägt das Grundgesetz der Erkenntnis Rechnung, dass subjektiv-öffentliche Rechte erst dann effektiv sind, wenn sie im Konfliktfall durchgesetzt werden können. Die Rechtsschutzgarantie ist deshalb ein entscheidendes Vehikel, um die Selbstherrlichkeit der öffentlichen Verwaltung gegenüber dem Bürger zu beseitigen und einen „substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle“ zu verwirklichen.[237] Sie ist in dieser Perspektive gleichsam der „Schlußstein der rechtsstaatlichen Ordnung“,[238] der (vorläufige) Höhepunkt einer Entwicklung, die in ihren Wurzeln zumindest bis zur Gründung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts zurückreicht und der damit verbundenen Hinwendung zum Rechtsstaat.[239] Vollständig beendet ist diese Entwicklung, wie ein Blick auf das Vergaberecht zeigt, jedoch noch nicht.[240] Vor allem ergibt die Zentrierung auf Rechte, dass kein lückenloser Schutz von rechtlich nicht geschützten Interessen besteht. Die Konfrontation mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit anderer Länder, die interessen- und nicht rechtebezogen ist, ist hierbei dienlich.[241]
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Indem Art. 19 Abs. 4 GG den Rechtsschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt als Grundrecht ausgestaltet, bringt er zum Ausdruck, dass die Rechtsschutzgarantie – wie die materiellen Grundrechte – vor allem den Einzelnen und seine Selbstverwirklichung im Auge hat. Für ihn ist dieses „formelle Hauptgrundrecht“[242] eine „Bastion der Individualität“.[243] Vor diesem Hintergrund enthält die Vorschrift eine Systementscheidung für den Individualrechtsschutz, die für die gesamte Struktur des deutschen Verwaltungsrechts von erheblicher Bedeutung ist. Sie reicht ungeachtet der bemerkenswert expansiven Interpretation der Art. 6 und 13 EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zudem weit über das konventionsrechtlich Geforderte hinaus. Ähnliches gilt für die Anforderungen des Art. 47 der Grundrechte-Charta.[244]
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Die Tragweite der Rechtsschutzgarantie und der allgemeineren Justizgewährleistungsgarantie (Art. 20 Abs. 3 GG) ist auch daran abzulesen, dass Deutschland im europäischen Vergleich über die relativ höchste Anzahl an Richtern[245] sowie über fünf Rechtszüge verfügt, von denen immerhin drei der Verwaltungskontrolle dienen: Die Verwaltungsgerichtsbarkeit besteht aus dem Bundesverwaltungsgericht mit Sitz in Leipzig (§ 2 VwGO), 15 Oberverwaltungsgerichten bzw. Verwaltungsgerichtshöfen sowie 52 Verwaltungsgerichten. Daneben existieren als besondere Verwaltungsgerichtsbarkeiten die Sozialgerichtsbarkeit mit einem drei- und die Finanzgerichtsbarkeit mit einem zweizügigen Rechtszug (Art. 95 GG). Die hohe Zahl an Richtern führt zu einer hohen Zahl entsprechend tätiger Rechtsanwälte, was insgesamt zur Folge hat, dass Verwaltungsbeamte den Diskurs über das Verwaltungsrecht nicht mehr allein beherrschen und eine Perspektivenvervielfältigung stattfindet.
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Zu den Weiterungen der auf einen flächendeckenden Individualrechtsschutz zielenden Rechtsschutzgarantie gehört die Etablierung des „Rechts auf fehlerfreien Ermessensgebrauch“[246] sowie die Unterscheidung zwischen Ermessen und unbestimmtem Rechtsbegriff,[247] die sich in Literatur[248] und Rechtsprechung[249] durchgesetzt hat. Beides hat die (verwaltungs-)gerichtliche Kontrolle der öffentlichen Verwaltung spürbar intensiviert,[250] wenn auch um den Preis eines im europäischen Vergleich deutschen Sonderweges. Größere Kritik daran ist erst in jüngerer Zeit laut geworden.[251]
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Die Gewährleistung lückenlosen Individualrechtsschutzes hat notgedrungen einen edukatorischen Effekt auf die öffentliche Verwaltung.[252] Insoweit ist Art. 19 Abs. 4 GG ein wesentlicher Baustein des gewaltengegliederten Staates (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), der im Verein mit anderen Bestimmungen der Verfassung – namentlich Art. 93 und 100 GG – die im europäischen Vergleich herausragende Stellung der Judikative in Deutschland besonders anschaulich macht. Allerdings handelt es sich insoweit lediglich um einen Reflex, nicht um das spezifische Anliegen der Rechtsschutzgarantie. Die flächendeckende gerichtliche Kontrolle der öffentlichen Verwaltung mag daher zwar ein wesentliches Charakteristikum der deutschen Funktionenordnung sein; als staatsorganisatorische Grundentscheidung würde sie jedoch missverstanden.
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Mit Ausbau und Perfektionierung des Individualrechtsschutzes nach 1949 haben Ausmaß und Intensität der (verwaltungs-)gerichtlichen Kontrolle gegenüber der öffentlichen Verwaltung kontinuierlich zugenommen.[253] Das hat vor allem die Verwaltungsgerichtsbarkeit in