Institutionell sind die meisten Verwaltungen von der Legitimität des Monarchen abhängig und auf diesen verpflichtet. Vor diesem Hintergrund sollte sich noch bis weit in die Weimarer Republik die Vorstellung halten, dass eine vollständige Demokratisierung für Deutschland nicht der richtige Weg sei und dass die monarchische Abschirmung der Verwaltung gegenüber den politischen Parteien am ehesten das Prinzip einer objektiven, unparteilichen und wirkungsvollen Erledigung öffentlicher Aufgaben sichere.[81] Viele Deutsche ordneten sich dieser autoritären Struktur mit einem Selbstverständnis unter, das Heinrich Mann in seinem Roman „Der Untertan“ wirkungsmächtig persifliert.[82]
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Im Zuge der genannten Herausforderungen – industrielle Revolution, Migrationsbewegungen, demokratische Forderungen – nehmen Umfang und Zugriff der Staatsbürokratie im ausgehenden 19. Jahrhundert deutlich zu.[83] Eine bekannte rechtswissenschaftliche Formulierung fasst dies wie folgt zusammen: „Die Verwaltung, bisher wesentlich Ordnungsgarant, wurde jetzt auch wesentlich Leistungsträger.“[84] Leistungen der Verwaltung werden so zu einem wichtigen Legitimationsmoment staatlicher Herrschaft. Zugleich setzt der Aufstieg des intervenierenden Staates das Individuum den Eingriffen der Verwaltung in bis dahin unbekanntem Maße aus. Das verstärkt die Notwendigkeit einer tragfähigen Legitimationsbasis der öffentlichen Gewalt besonders mit Blick auf das wirtschaftlich starke, aber politisch eher schwache Bürgertum, das die infrastrukturellen Segnungen des modernen Staates zwar begrüßt, als Ausgleich für die wachsende Staatsmacht gleichzeitig aber Garantien zur Sicherung der Freiheit, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht, verlangt. Größere demokratische Partizipation erscheint vielen dagegen politisch unerreichbar. Verfassungsrechtliche Institutionen allein können dem bürgerlichen Verlangen dabei freilich kaum genügen; sie sind von fraglichem Nutzen, solange keine Umsetzung in der Verwaltungspraxis erfolgt.[85] Etwas Umfassenderes wird gebraucht: der „Rechtsstaat“.[86]
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In dieser Tradition impliziert der Begriff des „Rechtsstaates“ die Bindung der öffentlichen Gewalt an eine Reihe fundamentaler Rechtsprinzipien eher verwaltungs- denn verfassungsrechtlicher Natur,[87] die das Handeln der Verwaltung regeln und eine gewisse Absicherung gegen die (monarchische) Exekutive bieten. Ein Schlüsselbegriff ist die sog. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Dazu gehören die Gesetzesbindung der Exekutive (Vorrang des Gesetzes), der Vorbehalt des Gesetzes für administrative Eingriffe in Freiheits- und Eigentumsrechte, sowie ergänzende, zumindest verwaltungsinterne, Kontrollmechanismen.[88] Der Rechtsstaat wird damit zum Synonym für die Domestizierung und Rationalisierung der öffentlichen Gewalt und gilt als Antipode des absolutistischen Machtstaates.[89] „Rechtstaat“ ist in diesem Verständnis ohne Demokratie möglich, wird gar als eine Art „Ersatz“ gedacht. Dies erklärt manche Denkfigur zum europäischen Rechtsraum, etwa wenn Joseph H. Kaiser 1965 mit Blick auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft vom Beruf seiner Zeit sprach, einen europäischen Rechtsstaat, aber eben keine europäische Demokratie zu schaffen.[90]
3. Die Weimarer Republik
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Im Jahre 1919 begründet die Weimarer Verfassung den ersten demokratischen Rechtsstaat in Deutschland. Eine ihrer zentralen Herausforderungen bestand in der Demokratisierung der Verwaltung und insbesondere ihres Apparats; dieses Projekt ist in den gut zehn Jahren parlamentarischer Demokratie nicht gelungen. Es bleibt bei einer rigiden Trennung von Staat und Gesellschaft, konstitutiv für das verwaltungsrechtliche Denken der Gründungsperiode;[91] Ansätze zu deren Überwindung werden oft als parteipolitische Kolonisierung diskreditiert.[92] Staat und Verwaltung unter den Präsidialkabinetten Paul von Hindenburgs ab 1930 und erst recht unter der nationalsozialistischen Diktatur bieten eine Negativfolie für die spätere Entwicklung von Staatlichkeit und Verwaltung in Deutschland,[93] ungeachtet einiger Momente administrativer Modernisierung.[94]
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 42 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland › III. Entwicklungslinien des Verwaltungsrechts
III. Entwicklungslinien des Verwaltungsrechts
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Die Entwicklung des Verwaltungsrechts in Deutschland wird heute mit Kategorien periodisiert, die weitgehend, wenngleich nicht vollständig, europaweiten Mustern folgen. Wie in fast allen Ländern unterscheidet man die Periode des absolutistischen Steuerungsrechts, des sog. Policeyrechts, mit Schwerpunkt im 17. und 18. Jahrhundert von derjenigen des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts im 19. Jahrhundert. Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich keine vergleichbaren Muster entwickelt: das hoch interventionistische Verwaltungsrecht im Ersten Weltkrieg, das liberaldemokratische Intermezzo unter der Weimarer Verfassung, die Präsidialherrschaft und dann die nationalsozialistische Diktatur haben keine spezifischen verwaltungsrechtlichen Typen mit vergleichbarer Prägekraft hervorgebracht. Für die zweite Hälfte des Jahrhunderts werden dann im Anschluss an Rainer Wahl eine Epoche der verfassungsrechtlichen Durchdringung des Verwaltungsrechts von 1950 bis 1990 und eine anschließende Epoche seiner Europäisierung und Internationalisierung unterschieden.[95]
a) Das Policeyrecht als Negativfolie
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Verwaltung im modernen Sinne setzt verschriftlichte Rechtsnormen voraus.[96] Rechtsnormbasierte Verwaltung lässt sich in Deutschland ab dem Ende des Mittelalters beobachten.[97] Wie die Schwierigkeiten zahlreicher Rechtsstaatsprogramme in vielen Teilen der Welt, ja selbst im europäischen Rechtsraum, zeigen, ist eine normgestützte Kommunikation im Dreieck von Regierung (Landesherr), Bürokratie und Untertan zivilisatorisch voraussetzungsvoll.
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Wie in vielen Staaten Kontinentaleuropas wird der Ursprung des deutschen Verwaltungsrechts in landesherrlichen (monarchischen) Vorschriften verortet, mit denen der Landesherr im Lichte der frühneuzeitlichen Rezeption der aristotelischen Politik auf eine „gute Ordnung“ seines Territoriums in zunehmend rationalistischer Absicht zielt. Neben die „gute Ordnung“ tritt nach dem Dreißigjährigen Krieg der Wiederaufbau als weiteres Ziel hinzu. Anknüpfend an den aristotelischen Begriff der Politik erhält das entsprechende Recht der „guten Ordnung“ die Bezeichnung „Policeyrecht“,[98] und Otto Mayer spricht ein Jahrhundert später in kritischer Absicht vom „Polizeistaat“.[99] Das Policeyrecht ist gekennzeichnet durch stets modifizierbare obrigkeitliche Anordnungen und Befehle, womit es sich als weit lernfähiger als das in Traditionen verankerte gemeine Recht erweist,[100] was, so zeigt sich gerade im Vergleich mit der Schweiz, Innovation beflügelte.[101] Seine Grundlage findet sich im ius eminens, dem „Generalnenner der umfassenden landesherrlichen Verwaltungshoheit“.[102] Vergleichend wird festgehalten, dass die Regierungen in Deutschland die umfangreichsten Reformen der Epoche durchführten.[103] Im Ausklang der Epoche kam es mit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 zu einer in vielen Hinsichten beispielhaften Kodifikation, auf die unter bestimmten Aspekten, etwa im Staatshaftungs- und Entschädigungsrecht, bis heute zurückgegriffen wird (§§ 74, 75 der Einleitung zum Preußischen Allgemeinen Landrecht).[104]
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Der Aufstieg des Policeyrechts geht einher mit dem Niedergang des Rechtsschutzes durch das Reichskammergericht.[105] Der regelmäßige Ausschluss gerichtlichen Rechtsschutzes gegen Akte des Landesherrn begründet die fundamentale Bedeutung der Trennung von öffentlichem Recht und Privatrecht, die, obwohl inzwischen von gänzlich anderer Funktion, die Rechtskultur in Deutschland weiterhin tief prägt.[106] Nicht zuletzt wegen des regelmäßigen Ausschlusses des gerichtlichen Rechtsschutzes bildet das Policeyrecht ein administratives „Steuerungsrecht“ par excellence.
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