b) Verwaltungsgerichtsbarkeit und verwaltungsgerichtliche Generalklausel
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Zur rechtsstaatlichen Konsolidierung des deutschen Verwaltungsrechts nach 1949 gehört die Errichtung einer bundeseinheitlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit, wenngleich die Verwaltungsgerichte (mit Ausnahme des Bundesverwaltungsgerichts) Institutionen der Länder bleiben. Seit 1960 ist auf der Grundlage der Gesetzgebungskompetenz von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG die Verwaltungsgerichtsordnung in Kraft.[254] Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes und der Zuweisung auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit an unabhängige Richter (Art. 97 und 99 GG) wurde der aus dem 19. Jahrhundert überkommene Streit um die Zuordnung der Verwaltungsgerichtsbarkeit entschieden und der Administrativjustiz eine Absage erteilt. Letzte Reminiszenzen finden sich in der in Bayern noch heute bestehenden Ressortzuständigkeit des Innenministeriums für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und wieder in der verwaltungsinternen Überprüfung von Vergabeentscheidungen in erster Instanz (§ 104 GWB).
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Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG entzog dem Enumerationsprinzip den Boden, also der letztlich aktionenrechtlichen Konzeption, nach der die Verwaltungsgerichte für die Entscheidung bestimmter, enumerativ aufgeführter Angelegenheiten zuständig waren.[255] Dies konkretisierend vollendete die Verwaltungsgerichtsordnung mit der Einführung der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel in § 40 Abs. 1 Satz 1 eine bereits in der Weimarer Zeit eingeleitete Entwicklung.[256] Vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Zuweisungen eröffnet sie seitdem den Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art, und zwar grundsätzlich unabhängig von der Handlungsform. Deshalb sind nicht nur erlassene und unterlassene Verwaltungsakte sowie Verwaltungsverträge Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle; auch Rechtsverordnungen,[257] Satzungen, Verwaltungsvorschriften, Warnungen, Empfehlungen und Stellungnahmen werden, zumindest implizit, zum Kontrollgegenstand.
c) Der Individualrechtsschutz nach Maßgabe subjektiv-öffentlicher Rechte
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Der in Art. 19 Abs. 4 GG enthaltenen Systementscheidung entsprechend gewährt das deutsche Verwaltungsprozessrecht Rechtsschutz grundsätzlich nur bei der Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte. Klagen sind nur zulässig, wenn der Kläger eine „Klagebefugnis“ besitzt, also die Möglichkeit geltend machen kann, in eigenen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt zu sein (§ 42 Abs. 2 und § 47 Abs. 2 VwGO), und sie haben zudem nur dann Erfolg, wenn der Kläger nach Feststellung des Verwaltungsgerichts tatsächlich in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO). Über den Wortlaut des Gesetzes hinaus gilt dies für alle Verwaltungsklagen, auch in der Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit (§ 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes und § 40 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung).
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Angesichts der Fixierung auf den gerichtlichen Rechtsschutz kann es nicht verwundern, dass die Frage nach dem subjektiv-öffentlichen Recht und seiner Bestimmung in der letzten Phase der Herausbildung des „klassischen“ deutschen Verwaltungsrechts im Mittelpunkt vieler Debatten stand. Die Betroffenheit in einem subjektiv-öffentlichen Recht löst den Vorbehalt des Gesetzes aus, begründet Anforderungen an das Verwaltungsverfahren (§ 28 des Verwaltungsverfahrensgesetzes [VwVfG]) und hat Konsequenzen für die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsentscheidungen sowie für ihre gerichtliche Kontrolle.
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Die Frage nach dem subjektiv-öffentlichen Recht steht bereits am Beginn der modernen deutschen Verwaltungsrechtsentwicklung[258] und wird – damals wie heute – nach der dem Zivilrecht (§ 823 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) entlehnten Schutznormtheorie beantwortet. Danach setzt die „Begründung eines subjektiven öffentlichen Rechts […] eine Norm des objektiven Rechts voraus, die geeignet ist, entweder unmittelbar oder durch Vermittlung eines von der Norm mit Rechtswirkungen ausgestatteten Aktes eine Rechtsposition des Einzelnen zu begründen“.[259] Entscheidender Ansatzpunkt für die Zuerkennung eines subjektiv-öffentlichen Rechts ist in der klassischen Lehre die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, der nach überkommener Auffassung bei der Ausgestaltung der Verwaltungsrechtsverhältnisse festlegen muss, welche Vorschriften (auch) Individualinteressen dienen und deshalb subjektiv-öffentliche Rechte begründen.
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Konsequenterweise erscheinen das Gesetz und die es konkretisierenden Normen, Verwaltungsakte und Verwaltungsverträge damit als entscheidende Grundlage der subjektiv-öffentlichen Rechte, so dass sich die verwaltungsrechtlichen Probleme vor allem auf die richtige Auslegung der einschlägigen Normen reduzieren. Offen bleibt freilich, wie weit der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Zuerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte reicht. Hier hat sich, hinter der intakt gebliebenen Fassade der aus dem Konstitutionalismus übernommenen Schutznormtheorie im Zeichen der Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts seit den 1970er Jahren eine tektonische Verschiebung vollzogen, über deren Konsequenzen bis heute kein vollkommenes Einvernehmen besteht.
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Nach der Schutznormtheorie traditioneller Lesart ist der Gesetzgeber bei der Entscheidung über die Zuerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte grundsätzlich frei. Er kann aus Gründen der Rechtssicherheit, der Rechtsklarheit oder der Verwaltungseffektivität davon absehen, die Regelungen eines Gesetzes auch in den Dienst seiner Adressaten zu stellen. Mitunter nimmt er diese Beschränkung sogar ausdrücklich vor und regelt, dass bestimmte Verwaltungsaufgaben allein im öffentlichen Interesse erledigt werden (siehe etwa § 3 Abs. 3 des Börsengesetzes und § 23a Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes). Es liegt freilich auf der Hand, dass dieser aus dem 19. Jahrhundert stammende Ansatz in einer Rechtsordnung, in der auch der Gesetzgeber an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden ist (Art. 1 Abs. 3 GG) und in der diese nahezu alle Interessen und Verhaltensformen des Einzelnen schützen, jedes Gesetz also immer auch irgendwie die Grundrechte der Bürger berührt, nicht aufrecht erhalten werden kann. Soweit der objektive Regelungsgehalt eines Gesetzes daher grundrechtlich geschützte Interessen berührt, empfängt er von diesen auch im Hinblick auf die Zuerkennung subjektiver Rechte „norminterne Direktiven“, denen sich der Gesetzgeber nicht entziehen kann. Dabei macht es keinen prinzipiellen Unterschied, ob das in Rede stehende Gesetz bipolare Rechtsverhältnisse zwischen dem Einzelnen und dem Staat ausgestaltet oder ob es multipolare Verwaltungsrechtsverhältnisse im Rahmen einer normativen Ausgleichsordnung konstituiert,[260] wie sie etwa zwischen Anlagenbetreibern, Staat und Nachbarn im Bau- oder Immissionsschutzrecht existieren. Konsequenterweise muss die Frage, ob eine bestimmte Norm für den Einzelnen ein subjektiv-öffentliches Recht begründet aufgrund einer sorgfältigen Einzelnormanalyse[261] entschieden werden, bei der zunächst und vorrangig die norminternen Direktiven zu bestimmen sind, die das Gesetz von den Grundrechten empfängt.
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Der Weg zu dieser Einsicht war steinig und ist noch immer nicht vollständig durchschritten. Gleichwohl lässt sich feststellen, dass seit Beginn der 1970er Jahre eine signifikante Ausweitung der subjektiv-öffentlichen Rechte stattgefunden hat, bei der die – erst später so genannten – norminternen Direktiven der Grundrechte zumindest im Hintergrund die entscheidende Rolle gespielt haben und das Dogma von der politischen Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Zuerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte zu Recht ins Wanken geraten ist.
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Unproblematisch