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Für diese Studie sind die Reformen der Staatsapparate von besonderer Bedeutung. Einige Staaten, so die Rheinbundstaaten und hier bis heute besonders sichtbar Bayern, folgen im Wesentlichen dem französischen, napoleonischen Beispiel und entwickeln sich zu zentralisierten bürokratischen Verwaltungsstaaten.[55] Aber auch Preußen und Österreich bilden ihre Verwaltungen im Lichte des französischen Beispiels um. An der Spitze wird die Verwaltung vom Monarchen auf ein aus Fachministern zusammengesetztes, nach Ressorts gegliedertes Staatsministerium übertragen;[56] das Prinzip monokratischer Leitung setzte sich gegenüber demjenigen kollegialer Leitung durch.[57] Die zweite Ebene, z.B. in Preußen diejenige der Provinzregierung, sieht sich am Beispiel des französischen Präfektursystems reformiert, ergänzt durch Spezialbehörden etwa für Unterricht oder Gesundheitswesen.
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Ein anderer Akzent findet sich allerdings auf der dritten Verwaltungsebene. Im Gegensatz zum zentralistischen Frankreich[58] gewinnt die seit dem Mittelalter überlieferte Idee der gemeindlichen Selbstverwaltung an Bedeutung. Paradigmatische Ausgestaltungen finden sich in der Magistratsverfassung der Preußischen Städteordnung von 1808[59], in der Bürgermeisterverfassung, die im Badischen Gemeindegesetz von 1831[60] niedergelegt ist, sowie in der Gemeindeordnung für die Rheinprovinz von 1845.[61] Diese Selbstverwaltung antwortet auf demokratische Forderungen in einem monarchisch und autoritär geprägten Herrschaftsverband. Zwar werden die Freiheiten im Vormärz erheblich eingeschränkt, das Prinzip jedoch überdauert, ja expandiert.[62] Die Idee der Selbstverwaltung wird später für andere Bereiche übernommen, insbesondere für die Landkreise,[63] für Teile der Sozialversicherung[64] oder für die Verwaltung zahlreicher Berufsgruppen.[65] Das Recht der Selbstverwaltung erstarkt so zu einem Kerngebiet des Verwaltungsrechts.
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Im Rahmen dieses Staats- und Verwaltungsverständnisses entwickelt sich im 19. Jahrhundert das deutsche Berufsbeamtentum. „Das Beamtentum des konstitutionellen Staates bildete eine undurchdringliche Einheit in der Hand des leitenden unmittelbaren Staatsorgans. Diese Einheit beruhte keineswegs allein auf der […] staatsrechtlichen Situation. Es war nicht allein das äußere Band der formalen Rechtssatzung, das das Beamtentum zu einem homogenen Ganzen verband, wichtiger als die juristische Norm war die eigenartige soziologische Verfassung des deutschen Beamtentums der konstitutionellen Zeit. Der Konstitutionalismus kannte keinen Beamtenberuf, sondern allein einen Beamtenstand. Während im Allgemeinen die mit der französischen Revolution einsetzende Bewegung den Ständestaat und mit ihm die Stände beseitigt hatte, gelang es in Deutschland zwei Ständen, sich in die neue Zeit hinüberzuretten: Beamtentum und Adel.“[66] Nicht zuletzt um die Loyalität der Beamten zu gewinnen, garantieren die Art. 129 und 130 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919 sowie nunmehr Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes (GG) von 1949 mit den aus (vor-)konstitutioneller Zeit „hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums“ eine verfassungsrechtliche Stellung des deutschen Beamtentums, die europaweit einmalig ist.[67]
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Abschließend sei noch auf eine höchst folgenreiche Entwicklung hingewiesen: die Expansion des Staatsbegriffs. Bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen auf den Dreiklang von Dynastie, Militär und Beamtenapparat bezogen, expandierte er unter dem Eindruck der revolutionären französischen Entwicklungen bis hin zu einem „totalen“ Begriff, der die Gesamtheit sozialer Institutionen umfasst.[68] Wie kaum ein anderes begriffliches Konstrukt soll dieser einsilbige Staat Selbstverständnisse, Vorstellungen, Erwartungen und Forderungen von Herrschaftsträgern wie Rechtsunterworfenen in Deutschland fortan prägen: Der „Staat“ wird, ungeachtet föderaler Gliederung und funktionaler Ausdifferenzierung, bis heute überwiegend als eine riesige, bürokratisch organisierte Handlungseinheit wahrgenommen. Als Gesamtstaat ist er der mit Abstand wichtigste Adressat gesellschaftlicher Forderungen und nicht gliedstaatliche,[69] europäische oder gesellschaftliche Institutionen. Selbst in so differenzierten und historisch abgesicherten Studien wie der wegweisenden Schrift von Rainer Wahl über „Herausforderungen und Antworten“ bleibt der einsilbige „Staat“ nicht nur das mit Abstand wichtigste Zurechnungssubjekt rechtlicher Pflichten, sondern tritt darüber hinaus als einheitlicher Akteur auf. Eine solche Grundbegrifflichkeit, die Ausdruck des herrschenden Staatsverständnisses in Deutschland ist, hat überaus starke einheitsstaatliche Tendenzen, gegenüber denen sich Anliegen eines echten, pluralistischen Föderalismus nur schwer durchsetzen können.[70] Zudem erschwert das tendenziell einheitsstaatliche Föderalismusverständnis die Durchsetzung anders ausgerichteter Konzeptionen für den europäischen Rechtsraum.
b) Expansion der Verwaltung und konstitutioneller Rechtsstaat
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Die Gründung des Norddeutschen Bundes und die Reichsverfassung von 1871 haben zunächst wenig Auswirkungen auf die Verwaltung, denn diese bleibt organisatorisch und funktional im Wesentlichen bei den Gliedstaaten. Die Herausforderungen der industriellen Revolution, der Migrationsbewegungen und neuer politischer Forderungen wirken dann aber in vielfacher Hinsicht vor dem Hintergrund der soeben beschriebenen neuen Grundbegrifflichkeit auf die Entwicklung des Verwaltungsrechts ein. Die Aufgabe der sozialen Gestaltung, insbesondere der Umgang mit sozialen Problemen,[71] wird zunehmend „dem Staat“ als Wirkungseinheit zugewiesen, was schon in der Gründerzeit zu einer enormen Expansion des Verwaltungsapparats und des Verwaltungsrechts führt. Dieser Modernisierungsschub erfolgte unter Führung des Reiches. Ähnliches soll sich einhundert Jahre später im Zuge der europäischen Integration ereignen.
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Da sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die disziplinbegründenden Kategorien des Verwaltungsrechts formen, bedarf es der Kenntnis ihrer wichtigsten Eckpunkte. Europaweit einmalig ist der bis heute prägende Exekutivföderalismus, der sich zunächst aus der Konstruktion des Reiches als eines Bundes der Fürsten ergibt.[72] Einen weiteren Schlüssel zum Verständnis bildet die unklare und umstrittene Legitimation sowohl des neuen Nationalstaates wie der Bundesstaaten. Die demokratischen Forderungen, die 1816 und in der Revolution von 1848 gestellt werden,[73] haben nur geringen Erfolg; es gibt namentlich keine Volkssouveränität wie etwa in den Vereinigten Staaten, dem großen Vorbild vieler liberaldemokratischer Revolutionäre.[74] Die parlamentarischen Versammlungen weisen nur wenige demokratische Elemente auf, da sie in der Regel aus einer aristokratischen ersten und einer oft dem Zensuswahlrecht unterliegenden zweiten Kammer bestehen;[75] zudem ist ihr Einfluss gering, da die Bestellung der Exekutive und des Beamtenapparats weitgehend dem Monarchen vorbehalten bleibt.[76]
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Die deutschen Verfassungen beruhen bis 1918 auf einem ambivalenten Kompromiss zwischen dem monarchischen und dem demokratischen Prinzip.[77] Während die britische Verfassung, deren wahrer Souverän der „King in Parliament“ war, problemlos demokratische Reformelemente integrieren konnte,[78] erlaubte die in Deutschland durch den Wiener Kongress gefestigte Auffassung von monarchischer Legitimität keine derartige Entwicklung.[79] Darüber hinaus weist die unklare legitimatorische Grundkonstellation in föderaler Aufstellung eine Reihe von Parallelen mit der heute in der Europäischen Union anzutreffenden Situation auf, so dass der Vergleich