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Korrespondierend dazu beschreibt der Begriff „Staat“ zu dieser Zeit (nur) den Dreiklang von Dynastie, Militär und eben Beamtenapparat; entsprechend formieren sich ein etatistisches Verwaltungs- und ein bürokratisches Staatsverständnis, die bis heute nachwirken. Der Dreiklang erfasst dabei keineswegs alle einschlägigen Phänomene in deutschen Landen, gab es doch schon seit dem Mittelalter Institutionen wie die gemeindliche Selbstverwaltung, die Verwaltung der Reichsstädte oder, höchst bedeutsam, die Verwaltung durch die Kirchen.[25] Diese haben jedoch den Inbegriff der Verwaltung, wie er heute vor uns steht, nicht nachhaltig geprägt. Die etatistische Tradition wirkt fort. So begreift die h.M. bis heute die gemeindliche Selbstverwaltung als einen Teil der staatlichen Verwaltung.[26]
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Dieses Verständnis von Verwaltung als staatliche bürokratische Herrschaft entspricht dem europäischen Normalfall. Es findet sich in den meisten Darstellungen dieses Bandes mit Ausnahme Englands und der Schweiz.[27] Vor dem Hintergrund des vorherrrschenden Entwicklungspfades wird eine begriffliche Herausforderung deutlich, die sich im Zuge der europäischen Integration ergibt: Institutionen der Europäischen Union, allen voran die Europäische Kommission, können aufgrund ihres nichtstaatlichen Charakters kaum im vollen Sinne als Verwaltungen begrifflich fixiert werden,[28] was auch erklären mag, dass das tätigkeitsbezogene Verständnis im europäischen Rechtsraum wieder an Bedeutung gewinnt.[29] Ein weiteres Vermächtnis dieses Pfades ist eine Konzeption der Verwaltung, welche deren politische Legitimation aus anderen Institutionen ableitet. So wie diese zunächst über den Monarchen vermittelt war, so beruht ihre demokratische Legitimation heute auf dem Wahlakt zum Parlament.[30] Nur langsam gewinnt demgegenüber die Vorstellung an Boden, dass das administrative Verfahren selbst zur demokratischen Legitimation der Verwaltungsentscheidung beitragen kann, etwa durch qualifizierte Beteiligungsverfahren oder transparentes Handeln.[31]
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In die frühe Neuzeit zurückkehrend ist an dieser Stelle auf eine im Lichte des europäischen Rechtsraums relevante Besonderheit der deutschen Entwicklung hinzuweisen: das Scheitern des Projekts einer reichsweiten Verwaltung. Es gab in jener Epoche Bestrebungen seitens des Kaisers wie der Reichsstände, neben einer Reichsgerichtsbarkeit, institutionalisiert im Reichskammergericht von 1495 und im Reichshofrat von 1501, Institutionen einer reichseigenen Verwaltung aufzubauen:[32] das erste Reichsregiment (1500),[33] das zweite Reichsregiment (1521),[34] die Bildung der Reichskreise (1500[35] und 1512[36]), die Reichspolizeiordnung (1530)[37] und die Reichsexekutionsordnung (1555).[38] Diesen Bestrebungen war jedoch kein Erfolg im Sinne des Aufbaus einer modernen Verwaltung beschieden. Grundlage der Ordnungsmacht des Kaisers blieben seine „Hausmacht“ und seine Territorien. Es gelang auf der Ebene des Reiches nicht, die ständischen Bindungen und die Fürstenmacht zu überwinden,[39] übrigens ähnlich wie in Polen.[40] Damit scheiterte zugleich der erste Ansatz einer einheitlichen Verwaltung weiter Teile des heutigen europäischen Rechtsraums, ebenso wie spätere Versuche einer imperialen Verwaltung, sei es durch das napoleonische Frankreich, das nationalsozialistische Deutschland oder die Sowjetunion. Die dialogischen Strukturen der Beziehungen zwischen den europäischen Institutionen und den mitgliedstaatlichen Verwaltungen, wie wir sie heute vorfinden, beruhen mithin auf gesättigten historischen Erfahrungen.
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Die Ausbildung von Verwaltungen im 17. und 18. Jahrhundert erfolgte in den Institutionen der Territorialherren. Die Entwicklung verlief in den verschiedenen Territorien dabei durchaus unterschiedlich.[41] Angesichts der späteren Hegemonie Preußens in Deutschland wurde der Entwicklung in diesem Land seit dem 19. Jahrhundert nicht selten eine paradigmatische Funktion zugemessen, oft vermittelt über ein hegelianisches – verwaltungszentriertes – Staatsverständnis.[42] Unter den vielen Ursachen, auf welche die Anfänge moderner Verwaltungen und Staatlichkeit in den Territorien zurückgeführt werden, kommt kriegerischen Auseinandersetzungen und insbesondere dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) eine besondere Rolle zu. Diese Ereignisse führten zunächst zum Bedürfnis nach stehenden Heeren, und damit nach einer entsprechenden Heeres- und Finanzverwaltung. Die erfolgreiche Befriedigung dieses Bedürfnisses brachte dann dasjenige des Wiederaufbaus mit sich, oft verfolgt mittels einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik mit entsprechenden Institutionen und Interventionen.
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Beide Bedürfnisse wurden zumeist nicht in den überkommenen patrimonial-ständischen Institutionen administriert, sondern durch eine unmittelbare landesherrliche Verwaltung, gegründet auf dem Souveränitätsanspruch des Landesherrn als umfassendes Herrschaftsrecht. Den bürokratischen Unterbau bildete zunehmend ein bürgerliches Fachbeamtentum, das den Berufsgedanken mit demjenigen der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung verband.[43] Es entwickelte, zumindest in Staaten wie Bayern, Preußen und Österreich, einen „Geist unbedingter Treue und des vollen Pflichtbewußtseins“, der es „in der gesellschaftlichen Stellung weit über seine dürftige materielle Lage hinausgehoben“ hat.[44]
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Diese Entwicklung steht im Einklang mit der allgemeinen europäischen Entwicklungslinie. Allerdings ist eine zweite Besonderheit zu vermerken: Die Verwaltungen der Territorialstaaten blieben in einen übergreifenden politischen und rechtlichen Rahmen eingebunden,[45] auch wenn die privilegia de non appellando die Möglichkeit, vor einer Institution des Reiches ein Recht gegenüber dem Landesherrn zu erstreiten, zunehmend beschränkten.[46] Das galt nicht nur mit Blick auf die weiterhin aktiven politischen Organe, namentlich Kaiser und Reichstag, oder die gerichtlichen Instanzen Reichskammergericht und Reichshofrat, sondern auch für administrative Institutionen wie Reichskreise und Kreisassoziationen.[47] Zudem gab es eine gemeinsame Rechtsmasse, die aus diversen Komponenten bestand, insbesondere dem Recht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation sowie einer Normschicht, die heute als überstaatlich und völkerrechtlich qualifiziert würde. Insoweit erscheint es in Deutschland geradezu als historischer Normalfall, dass staatliche Verwaltung im Kontext eines komplexen Gefüges operiert, das heute oft als Mehrebenensystem bezeichnet wird.
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Wenn Samuel von Pufendorf das Reich vor diesem Hintergrund und im Vergleich mit den aufkommenden Nationalstaaten seiner Zeit als „irregulare aliquod corpus et monstro simile“ bezeichnet[48] und diese Formel heute zuweilen auf die Europäische Union angewandt wird, so zeigt dies Parallelen, die das Operieren deutscher Verwaltungen im europäischen Kontext erleichtern sollten. Auch die Leichtigkeit, mit welcher der europäische Rechtsraum in Deutschland als Mehrebenenkonstrukt gedacht wird, erklärt sich in dieser Tradition, die allerdings mit einer daneben bestehenden, weiterhin einflussreichen staatszentrierten Tradition in steter Spannung steht.[49]
a) Die Neuordnung unter französischem Einfluss
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Das Denken über den Staat formt sich im Deutschland des 19. Jahrhunderts, wie in den meisten europäischen Staaten, vor allem in der Auseinandersetzung mit Frankreich.[50] Die Entwicklung der modernen deutschen Staatlichkeit, und mit ihr diejenige der Verwaltung, sind ohne den französischen Einfluss nicht zu verstehen. Die Französische Revolution, die französische Besatzung und die napoleonische Neuordnung bilden eine tiefe Zäsur und haben für Staatlichkeit und Verwaltung in Deutschland mindestens so einschneidende Folgen wie das Scheitern des Kaisers beim Aufbau einer reichsweiten Verwaltung im Alten Reich. Die Wirkung Frankreichs ist dabei vielfältig: als schiere Kraft des Wandels, als Archetyp, als Prototyp, als Antipode.