Lintu. Christine Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Kraus
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783957448323
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was ich meine?“

      „Toller Witz. Ich hab das echt mal für eine Weile in Betracht gezogen, weil ich mir nicht erklären konnte, warum ich die Einzige bin, die es kann.“

      „Na, wenigstens weißt du jetzt, dass es mindestens noch drei in deiner Umgebung gibt – eh, gab, nein, ach du weißt schon …“

      Ich nickte. „Von denen eine tot ist, eine nicht weiß, dass sie es kann und einer nichts davon wissen will.“

      „Was nichts an der Tatsache ändert, dass du nicht mehr allein bist.“

      „Du hast recht, ich sollte nicht so undankbar sein.“

      „Also, um auf den Punkt zurückzukommen“, fuhr Julien fort, „nicht nur du hast eine Reise vor dir. Ich auch. Ich muss meine gesamten Wertvorstellungen neu überprüfen. Ich weiß gar nicht, ob unsere normalen Polizeigesetze für so eine Kampfelfe wie dich überhaupt gelten.“

      Jetzt musste ich lachen. „Du, im Zweifelsfall fragst du mich einfach. Ich spreche deine Sprache und bin bisher nicht auffällig geworden.“

      „Bis auf jeden Tag in der letzten Woche. Was davor war, zählt nicht mehr.“

      Wieder musste ich ihm zustimmen. Mein Leben davor war so lange her, dass ich fast keinen Bezug mehr dazu hatte. Und doch musste ich noch einmal dahin zurück. Der Start in mein neues Leben ging von dort aus. Genaugenommen hatte mein neues Leben schon längst angefangen. Aber ich musste noch einiges aus meinem alten Leben zu Ende bringen, lauter formale Dinge – die Wohnung auflösen, mich von der Uni abmelden und alles, was Geld kostete, kündigen. Und dann war da noch der Laden. Großmutter und ich hatten auf unserem Flug kein einziges Wort darüber gewechselt, wie ich mit dem Laden verfahren sollte. Plötzlich hatte ich genug vom Herumlaufen und Reden.

      Als hätte er es gewusst, sagte Julien: „Ich habe einen Riesenhunger.“

      Mein Magen reagierte augenblicklich mit einem lauten Geräusch. Mir fiel ein, dass ich außer dem mageren Müsliriegel von heute Morgen und den Croissants von gestern seit Tagen nichts Richtiges gegessen hatte.

      „Auf ins Café“, lachte Julien.

      „Aber in das neben dem Buchladen, ich brauche jetzt mindestens zwei Portionen Bratkartoffeln.“

      „Einverstanden.“ Er sah mich erwartungsvoll an.

      Mir war klar, was er wollte und ich tat ihm den Gefallen. Freute mich sogar. „Rückflug?“

      Er nickte, seine Augen blitzten, und dann strahlte er übers ganze Gesicht, obwohl er sich deutlich bemühte, cool zu wirken. Ich überprüfte die Umgebung und drehte ihm den Rücken zu. Ganz in der Ferne entdeckte ich Bewegung, möglicherweise Reiter. Es war sicherer, zwischen die Bäume zu verschwinden, bevor wir in die Höhe stiegen. Julien legte die Hände auf meine Schultern, ich verband mich mit ihm und machte im Abheben schon den Schlenker zur Seite. Er erschrak, ließ aber nicht los.

      „Was ist?“, flüsterte er in mein Ohr.

      Normale Vorsichtsmaßnahme, Reiter im Anzug, gab ich zurück.

      Keine Reaktion. Ach verdammt, er war ja kein Lintu. Erstaunlich, wie vertraut mir das Gehirnsprechen in der kurzen Zeit mit Großmutter geworden war. Großmutter. Einen Moment lang überwältigte mich die Erinnerung und mir schossen die Tränen in die Augen. Verdammt, Elli, jetzt nicht! Reiß dich zusammen! Du kannst dir jetzt keine Schwäche erlauben! Ich sparte mir eine mündliche Antwort auf Juliens Frage. Er bestand auch nicht darauf, war wohl zu beschäftigt. Mit einem Mal reizte es mich zu versuchen, ob es nicht auch mit einem Madur gehen könnte. Warum sollte Julien nichts empfangen können? Vielleicht wusste er nur nicht, wie es ging. Ich konnte auf jeden Fall etwas senden. Es würde mich auf andere Gedanken bringen. Während wir zwischen den Bäumen zurückflogen, sendete ich ununterbrochen.

      Hallo Julien, hörst du mich? Da vorn sind Reiter, kannst du mich hören? Wir fliegen jetzt schneller, Julien, hörst du mich?

      Ich erhöhte das Tempo, als wir an den Reitern vorbeikamen und landete kurz darauf im Schatten der Bäume neben dem Parkplatz.

      „Und?“

      „Du bist wegen der Reiter so schnell zwischen die Bäume geflogen“, strahlte er mich an.

      „Ja, hast du mich gehört?“

      „Gehört? Nein, hast du denn etwas gesagt? Ich hab messerscharf geschlossen, bin schließlich bei der Kripo.“

      Schade. „War gar nichts anders als sonst?“

      Ein leichtes Misstrauen lag in seinem Blick. „Was soll anders gewesen sein? Es hat noch mehr Spaß gemacht als beim letzten Mal, weil ich jetzt schon wusste, wie es geht. Vor allem, als du über die Reiter geflogen bist. Hab mich gefühlt wie beim Räuber-und-Gendarm-Spielen früher, wenn wir den Gegner umschlichen haben.“ Vor lauter Begeisterung hatte er sein Misstrauen kurzzeitig vergessen. Doch er war ein guter Polizist. „Also, was sollte die Frage? Hast du etwas gemacht?“

      „Ich habe etwas versucht.“

      Er sah mich auffordernd an.

      „Ich habe dir Gedanken gesendet.“

      „So wie deiner Großmutter?“ Er riss die Augen auf.

      „Ja.“ Ich war ein bisschen enttäuscht. „Hast du denn überhaupt gar nichts gemerkt?“

      „Doch, es war unruhig in meinem Schädel. Irgendwelche Störungen, ich konnte nicht ausmachen, ob es Geräusche sind oder Schmerzen, irgendwie unangenehm. Hab mich dann nicht weiter drum gekümmert, ich wollte den Flug genießen.“ Er schaute mich entschuldigend an. „Tut mir leid. Wollen wir es nochmal versuchen?“

      „Ich glaube nicht. Nicht jetzt. War nur so eine Anwandlung von mir.“ Ich fühlte mich gerade erschöpft, musste dringend etwas essen.

      Julien dagegen war Feuer und Flamme. „Aber denk nur, wenn das ginge! Wie cool das wäre. Wir könnten uns immer heimlich verständigen!“

      Ich schaute ihm in die Augen, fragte mich, ob er die Realität verdrängte oder vergessen hatte.

      „Oh … ja … immer ist ja nicht mehr. Und du bist auch nicht bei der Polizei. Entschuldige, ich bin manchmal doch ein Kindskopf.“

      „Brauchst dich nicht entschuldigen. Du hast ja recht. Wir hätten viele Möglichkeiten – wenn die Welt ein bisschen anders wäre als sie ist.“ Seine Begeisterung hatte mich wieder aufgemuntert. „Zum Glück bist du so ein Kindskopf. Wie solltest du sonst an mich glauben?“

      Er lachte und drückte mir einen Schmatzer auf die Wange. „Lass uns gehen, bevor du zum Skelett abgemagert bis.“

      Im Wagen sagte er plötzlich: „Wir sollten nicht dein Lieblingscafé nehmen. Wir müssen dich nicht auf dem silbernen Tablett präsentieren.“

      Tja, es wurde wirklich Zeit zu gehen, wenn ich nicht einmal mehr meine vertrauten Plätze aufsuchen konnte. Auf dem Weg in die Stadt fertigte ich im Kopf eine Liste der Dinge an, um die ich mich kümmern musste. Ich teilte sie ein in einfache und schwierigere Aufgaben. Zu den schwierigeren zählte eindeutig das Gespräch mit meinen Eltern. An oberster Stelle. Dicht gefolgt von dem Gespräch mit Olivia, wobei das wiederum nicht in die Zeit vor meiner Abreise fallen würde. Wegen Aufenthalts der jungen Dame in Übersee. Ich würde sie aufsuchen müssen. Die dritte schwierigere Geschichte war Großmutters Nachlass. Ich konnte nicht verhindern, dass mir jedes Mal, wenn ich auch nur in ihre Nähe dachte, die Tränen in die Augen schossen. Schnell wandte ich den Kopf zum Seitenfenster und blinzelte verstohlen, weil ich nicht wollte, dass Julien etwas merkte. Ich spürte das Amulett, wie es sich um meine Taille schmiegte. Über den Laden hatte ich nicht mit ihr gesprochen, dennoch ahnte ich, was sie gewollt hätte. Sie hätte den Laden aufgegeben, um mit mir in die Kolonie zu gehen. Das Gleiche würde sie jetzt von mir verlangen. Nach den Ereignissen kam auch gar keine andere Lösung in Frage. Keiner aus der Straße würde den Laden weiterführen, in dem Großmutter ermordet worden war. Und jemand anderen würde ich nicht hineinlassen. Ich konnte Frau Keller fragen, eine Freundin von Großmutter, die in