Lintu. Christine Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Kraus
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Год издания: 0
isbn: 9783957448323
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wenn ich gekonnt hätte. Ich versuchte jedoch, mir nichts anmerken zu lassen, äußerlich gegenüber dem Patron, innerlich gegenüber meinem System. Ich durfte jetzt nicht nachgeben. Hatte einen Auftrag zu erfüllen – den meine sterbende Großmutter mir gegeben hatte: überleben, mich ausbilden. Die einzige Möglichkeit, die Kameradschaft zu bekämpfen. Zu besiegen. Großmutters Tod zu vergelten.

      Es hielt mich nicht mehr in diesem Ort. Das einzige, was jetzt half, war körperliche Aktivität. Deshalb kehrte ich zurück zu meiner Route. Inzwischen war es fast Abend geworden. Immer noch heiß, aber nicht mehr ganz so schlimm. Dennoch ließ ich meine Straßenkleidung an, nur für den Fall. Im Wald flog ich unterhalb der Baumkronen, damit ich von oben nicht entdeckt werden konnte. Wenn ich jemanden sähe, könnte ich mich jederzeit im Grün über mir verbergen, auch wenn die Nadelbäume weniger Schutz boten als Laubbäume. Auf diese Weise kam ich nicht sehr schnell voran, doch das war mir egal. Hauptsache, ich war in Bewegung. Wenige sehr schmale Landstraßen ohne Autos kreuzten meinen Weg. Die Stille des Waldes beruhigte mich. An manchen Stellen fiel das letzte Sonnenlicht bis auf den Waldboden und beschien lauschige kleine Lichtungen, die mich unter anderen Umständen eingeladen hätten, ein wenig zu bleiben. Nach kurzer Zeit tauchten die ersten Laubbäume auf, langsam verlor sich die südliche Atmosphäre. Die Blätter rauschten leise in einer kaum wahrnehmbaren Brise und leuchteten grüngolden im letzten Sonnenlicht. Als es ganz dunkel war, wechselte ich die Kleidung und stieg über das Blätterdach. Erhöhte die Geschwindigkeit und unterbrach meinen Flug nicht mehr, bis ich zu Hause war.

       7. Kapitel

      Es war noch dunkel, als ich auf meinem Balkon landete. Unten auf der Straße konnte ich nichts Verdächtiges erkennen. Machte trotzdem kein Licht in der Wohnung, duschte im Dunkeln, putzte mir endlich wieder richtig die Zähne und legte mich ins Bett. Beim Einschlafen nahm ich mir noch vor, dem dauerhaften Inhalt meines Rucksacks eine Zahnbürste hinzuzufügen. Als ich erwachte, hatte ich für einen Augenblick Orientierungsschwierigkeiten. Das war seltsam, war auf dem Flug nicht vorgekommen. Ich fühlte mich fremd in der Wohnung. Es war zu viel passiert, ich war wirklich nicht mehr die Alte. Ich kramte nach meinem Handy und versuchte es zu aktivieren. Der Akku war komplett leer, dafür war die Mailbox, nachdem ich es ans Netz gehängt hatte, ziemlich voll. Alles Anrufe von Julien. Oh weh, er machte sich bestimmt Sorgen. Ich rief ihn an.

      „Elli?“ Er schrie fast ins Telefon.

      „Ja, hi.“

      „Was heißt hier ‚ja, hi‘? Wo bist du?“

      „Zu Hause.“

      „Zu Hause?“

      Warum wiederholte er alles, was ich sagte?

      „Gehts dir gut?“

      „Ja, wieso?“

      „Wieso?“ Schon wieder.

      „Weißt du überhaupt, was hier los ist? Du wirst gesucht! Schwing deinen Hintern ins Revier, aber ein bisschen plötzlich!“

      Was war denn das für ein Ton? Ich war schon auf dem Weg an die Decke, doch dann erinnerte ich mich daran, dass er nicht wissen konnte, was ich erlebt hatte. Und ich wusste genauso wenig, was bei ihm los war.

      „Bin gleich da.“ Ich schlüpfte in frische Klamotten, zog einen Müsliriegel aus der Schublade und machte mich auf den Weg. Mein Skateboard hatte ich am Laden liegen lassen, also tat ich heute nur so, als hätte ich eins. Fiel niemandem auf.

      Das Revier war nicht gerade der geeignete Ort für das Gespräch, das uns bevorstand, aber für den Anfang war es mal ein Treffpunkt. Julien saß mit finsterem Blick hinter seinem Schreibtisch. Kaum hatte ich jedoch die Tür geschlossen, stand er vor mir und umarmte mich. Dann betrachtete er mich prüfend, als sei ihm die Antwort, die ich am Telefon auf seine Frage nach meinem Befinden gegeben hatte, suspekt. Nachdem er offensichtlich zu einem beruhigenden Ergebnis gekommen war, fragte er: „Wo warst du?“

      Er betonte jedes einzelne Wort. Seine Methode, die Unabdingbarkeit einer ausführlichen Antwort zu unterstreichen. Kannte ich ja schon, kam mir nur in letzter Zeit etwas gehäuft vor.

      „Ich erzähle dir alles, aber nicht hier“, antwortete ich leise.

      Er ließ mich los, tippte etwas in seinen PC und sagte: „Gehen wir.“

      Auf dem Weg steckte er den Kopf ins Nachbarbüro. „Elli Müller ist wieder aufgetaucht. Nehmen Sie sie aus der Fahndung raus.“

      Dann machte er die Tür ganz auf, zerrte mich zum Vorzeigen in die Türfüllung und zurück auf den Gang. „Melde mich später“, rief er nach hinten, während er weiter meinen Arm festhielt und forsch Richtung Ausgang lief.

      „Hast du eine Vorstellung davon, welche Sorgen ich mir gemacht habe?“, fauchte er, als wir im Auto saßen.

      „Langsam schon“, antwortete ich lahm.

      „Wir mussten davon ausgehen, dass die Kameradschaft dich und Frau Schmidt in ihre Gewalt gebracht hat“, setzte er nach.

      So weit hatte ich auch gedacht. Hatte es aber bis jetzt als Vorteil betrachtet, weil uns dadurch niemand in die Quere gekommen war. Dass ich deshalb auf einer Fahndungsliste gelandet war, schockierte mich allerdings. Irgendwie war alles reichlich turbulent im Augenblick.

      „Also, fang an“, kommandierte er, während er den Wagen aus der Stadt steuerte.

      „Was ist an dem Abend passiert?“, fragte ich. „Als ich ankam, war vorn im Laden eine Schießerei im Gange und Gr- Frau Schmidt lag verwundet auf dem Boden.“

      „Die Streife hat zwei Männer und eine Frau in den Laden gehen sehen. Die waren noch nicht richtig drin, als ein Schuss fiel. Sie sind sofort rein und wurden von einem Kugelhagel empfangen. Es gab ein ziemlich langes Gefecht. Einer der Männer wurde erschossen, der andere Mann und die Frau wurden verletzt. Die beiden sitzen jetzt in U-Haft. Einen Kollegen hat es auch erwischt. Zum Glück nur eine Fleischwunde. Die Kollegen haben dann das Lager und die Wohnung durchsucht und niemanden gefunden, nur eine Menge Blut. Als ich den Tatort inspizierte, habe ich meine Schlüsse gezogen. Dein Skatebord lag draußen, die Blutspuren führten nur in die Wohnung, nicht wieder hinaus, ein Fenster stand offen.“ Er blickte mich vielsagend an.

      Mir blieb fast das Herz stehen. Scheinbar sah ich sehr erschrocken aus, denn sein Ausdruck wurde milde. „Keine Angst, ich hab nichts gesagt. Die hätten mich doch von dem Fall abgezogen und unseren Psychologen auf mich angesetzt. Das kann kein Mensch glauben, der es nicht gesehen hat.“

      Erleichtert atmete ich aus, merkte erst jetzt, dass ich vor Schreck die Luft angehalten hatte.

      „Ich habe mir also gedacht, dass du mit Frau Schmidt weg bist. Ich konnte mir nur nicht erklären, wieso. Und du hast keinen einzigen meiner Anrufe beantwortet. Das war nicht nur nicht fair, das war absolut beschissen.“

      Er war gekränkt und er hatte recht. Er war mein bester Freund. Ich an seiner Stelle wäre ausgerastet. Unter einer ordentlichen Szene hätte ich es nicht getan. Es tat mir sehr leid. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass ich es ein zweites Mal wahrscheinlich nicht viel anders machen würde. Doch ich konnte mich jetzt wenigstens entschuldigen. Inzwischen hatten wir die letzten Häuser hinter uns gelassen und fuhren durch ein paar Felder auf ein Waldstück zu.

      „Es tut mir leid. Ich weiß, du hast dir Sorgen gemacht.“

      Julien bog auf einen Parkplatz am Waldrand ein. Er bremste etwas zu scharf, machte den Motor aus und funkelte mich an. „Sorgen gemacht? Das ist gar kein Ausdruck. Ich bin fast gestorben vor Angst um dich. Gus und Martha wollten sich schon von mir lossagen, weil ich nur noch von dir geredet habe. Gus meinte, ich solle mich endlich wieder wie ein Polizist benehmen und dass du schon groß seist – ob ich das schon gemerkt hätte. Wenn du dein Skateboard nicht zurückgelassen hättest, wäre gar niemandem aufgefallen, dass du da warst. Die Kollegen haben in den Nachbarläden herumgefragt und natürlich haben alle das Skateboard gekannt. Nachdem wir dich nicht finden konnten, haben sie geglaubt, du seist mit Frau Schmidt der Kameradschaft in die Hände gefallen. So, und jetzt du.“