TIONCALAI. Esther-Maria Herenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Esther-Maria Herenz
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783939043614
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alle Hände voll zu tun, Elly dazu zu bringen, wieder ein Wort mit Yewan zu reden. Doch als die beiden nach bestandenen Prüfungen mit ihrer Schwertkampfklasse ans Meer fuhren, herrschte immer noch eisiges Schweigen zwischen den beiden.

      Neolyt blieb allein zurück und war froh, durch die Ausbildung abgelenkt zu werden. Sie hatte schreck­liches Heimweh und da sie nun vollkommen allein in dem Zimmer war, wuchs das Gefühl der Einsamkeit.

      Elbea hatte schon vor Tagen ihre Abschlussprüfungen bestanden und war gemeinsam mit einigen anderen nach Xialenóll gereist, um dort die Einhornprüfung abzulegen und schließlich von einem solchen erwählt zu werden. Neolyt hatte erst wenige Blicke auf „echte“ Einhörner erhaschen können, doch viel mehr als einen gehörnten Kopf oder einen steingrauen Schweif hatte sie nicht gesehen. Gerne würde sie einmal ein Einhorn genau betrachten und berühren. Sie hatte natürlich schon viel über sie gehört und wusste, dass sie die Wesen bald auch im Unterricht kennenlernen würde, aber Bilder in Büchern sahen meistens anders aus als die Wirklichkeit. Deshalb freute sie sich, als Deor ihr eröffnete, dass sie die Baumwesen nach hinten verschieben und stattdessen direkt mit den Einhörnern anfangen würden.

      „Dein Ferien-Unterricht soll dir schließlich ein bisschen Spaß machen“, meinte er und lächelte.

      Neolyt fand es sehr nett, dass er sich Mühe gab, ihr mit dem Unterricht nicht die Ferien zu veröden, wusste er doch, weswegen sie nicht zum Rudel konnte.

      „Was weißt du über Einhörner?“, begann Deor. Sie hatten den Unterricht nach draußen verlegt und saßen unter einer ausladenden Weide am See, deren dicht belaubte Äste sie vor den heißen Sonnenstrahlen schützten.

      „Na ja … Die kleinen, die wie Ponys aussehen, sind nicht ganz echt, und Einhörner lassen nur Frauen auf sich reiten“, erklärte sie unsicher.

      „Richtig. Und weißt du auch, warum das so ist?“

      „Ja“, erwiderte Neolyt stolz. „Die Einhörner haben mit Selay, der ersten Einhornreiterin, einen Pakt geschlossen, dass nur Menschen wie sie auf ihnen reiten dürfen. Und die Einhörner haben das sehr ernst genommen und nicht nur ihre reine Seele und ihren klaren Verstand berücksichtigt, sondern auch ihr Geschlecht. So war es doch, oder?“

      „Wahrscheinlich, ja“, bestätigte Deor und lächelte. „Und weißt du, woran du ein echtes Einhorn erkennst?“

      „Vielleicht am Horn?“, riet Neolyt.

      „Nicht ganz. Natürlich gibt es Pferde, die sehr entfernt mit den Einhörnern verwandt sind und einen kleinen Höcker auf der Stirn haben. Aber das sind selbstverständlich keine echten Einhörner. Das erste Merkmal, auf das du achten musst, ist die Fellfarbe. Einhörner nehmen nur Farben von dunklem Grau zu klarem Weiß an. Es soll auch eines mit schwarzem Fell gegeben haben, aber das sind nur Legenden.“

      „Warum gibt es keine Einhörner mit einer anderen Farbe?“

      „Einhörner sind reine Wesen des Mondlichts und der Nacht. Das wird auch durch ihr Äußeres ausgedrückt.“

      „Und sind alle kleinen Einhörner unecht?“

      „Auf keinen Fall. Die Größe ist keineswegs ein Kriterium. Dafür allerdings die Augen. Wenn du einem Einhorn in die Augen schaust, merkst du sofort, ob es echt ist oder nicht. Denn in ihren Augen spiegelt sich ihr ganz persönlicher Charakter. Sie können grün sein oder blau, braun, vielleicht schwarz, alles Mögliche, auch gemischt. Aber sie sind wie bodenlose Teiche und nehmen verschiedene Schattierungen an, je nachdem, wie das Einhorn sich gerade fühlt. Wenn du es anblickst, scheint sich seine Stimmung auf dich zu übertragen. Das ist die sicherste Methode, wie du ein echtes Einhorn erkennen kannst.“

      „Wer hat denn gesagt, welche Einhörner echt sind und welche nicht?“

      Deor lächelte. Ihm gefiel Neolyts Einstellung, die Dinge zu hinterfragen.

      „Eine sehr berechtigte Frage. Es ist so, dass Einhörner nicht von Anfang an mit Pferden gekreuzt wurden, um genügend von ihnen zu züchten. Bis vor einigen Jahrhunderten galten sie als unantastbar und wertvoll. Niemand wäre auch nur auf die Idee gekommen, so etwas zu tun. Aus dieser Zeit stammen sehr detaillierte Beschreibungen der Einhörner, aus denen wir schlussfolgern können, wie sie ursprünglich aussahen.“

      Neolyt nickte.

      Die weitere Stunde verbrachte Deor damit, sie mit den grundlegenden Eigenschaften der Einhörner vertraut zu machen. Außer den Fell- und Augenfarben unterschied man zwischen vier unterschiedlichen Arten des Horns, verschiedenen Körperbauten sowie nach Länge und Dichte der Mähne und des Schweifes.

      „Früher wäre es niemals jemandem eingefallen, die Mähne oder den Schweif eines Einhornes auch nur zu berühren. Einhornhaar galt schon immer als unzerreißbar, flammenfest und vor allem kann es einen unsichtbar machen.“

      „Einhörner können sich unsichtbar machen?“, fragte Neolyt erstaunt.

      „Ja. Sie sind mächtige Zauberwesen, auch wenn das heutzutage immer weniger beachtet wird. Das und eben jene unglaublichen Eigenschaften haben dazu geführt, dass einige Einhornreiter für ein entsprechendes Sümmchen – das bedeutet, sie bekommen sehr viel Geld dafür – ihren Einhörnern Mähne und Schweif stutzen lassen, beziehungsweise manchmal sogar ganze Haare herausreißen lassen.“

      „Und wehren sich die Einhörner nicht dagegen?“, fragte Neolyt erschrocken.

      „Viele von ihnen sind so lange wie dumme Tiere behandelt worden, dass sie letztendlich auch zu solchen geworden sind. Und die gezüchteten haben sowieso von Anfang an den Verstand eines Pferdes.“

      „Aber das ist doch furchtbar“, sagte Neolyt traurig und wütend zugleich. „Unternimmt denn niemand etwas dagegen?“

      „Nun, es gibt Schutzorganisationen. Jährlich sollen alle Haushalte, die Einhörner beherbergen, geprüft werden. Aber viele entziehen sich dieser Vorschrift, da sie es sich nicht leisten können, den Einhörnern den Komfort zu bieten, der für sie festgelegt wurde.“

      „Was ist Kommfohr?“

      „Das bedeutet, dass ihnen viele Annehmlichkeiten zustehen und auch bestimmtes Futter.“

      „Aber es geht doch darum, wie man sie behandelt, oder? Wenn man sich das Futter nicht kaufen kann und trotzdem nett zu ihnen ist, dann ist das doch nicht schlimm.“

      „Genau das ist das Problem. Letztendlich leiden unter dem Gesetz nur die Unschuldigen.“

      „Yewan hat recht, die Räte sind merkwürdig.“ Neolyt schüttelte den Kopf.

      Das Zwitschern einiger Vögel erfüllte die Mittagshitze, während Deor einen Moment lang schwieg.

      „Es liegt natürlich nicht nur an den Räten“, wandte er schließlich ein. „Man bräuchte solche Gesetze gar nicht, wenn die Einhornreiter noch so ehrbar und gewissenhaft wären wie einst.“

      „Aber wieso haben die Einhörner nicht erkannt, dass diese Menschen, die damit angefangen haben, nicht gut zu ihnen waren?“

      „Das kann ich dir nicht sagen“, antwortete Deor und aus irgendeinem Grund war sich Neolyt nicht sicher, ob er es tatsächlich nicht wusste oder es ihr nicht verraten wollte.

      Am Abend saßen sie in kleiner Runde im Speisesaal, nur wenige ältere Schüler verbrachten die Ferien ebenfalls im Bau. Doch sie hatten keinen Unterricht und konnten jeden Tag so lange sie wollten ohne Aufsicht an die frische Luft. Neolyt setzte sich etwas abseits von ihnen hin und stocherte lustlos in ihrem Eintopf herum. Sie vermisste Elly, Yewan und Elnar. Ohne ihre drei Freunde verfolgte die Langeweile sie auf Schritt und Tritt.

      „Ravela, Neolyt, weshalb so trübsinnig?“ Wadne hatte sich ihr gegenüber niedergelassen, allerdings ohne einen Teller.

      „Ach, nichts“, meinte sie und versuchte, fröhlicher auszusehen.

      „Gut. Ich wollte dich nur fragen, was wir in der nächsten Woche machen wollen. Deor ist nicht da und ich wollte dich eigentlich nicht mit regulärem Unterricht quälen.