TIONCALAI. Esther-Maria Herenz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Esther-Maria Herenz
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783939043614
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Neolyt dazu, von ihrem Rudel zu erzählen, obwohl das bei ihr immer starkes Heimweh verursachte.

      Nach diesem Tag setzten sie den Unterricht im Freien fort. Neolyt war Deor dankbar, dass er nicht darauf bestand, im Bau zu bleiben, denn der Wald tat ihr sehr gut.

      Fast glaube ich es selbst, doch wie sollte das sein?

      Doch die Sommerferien fanden schließlich ihr Ende. Elly und Yewan kamen braungebrannt zurück, erzählten von genialen Wellen, genialem Wetter und einem genialen Strand und bedauerten und beneideten Neolyt zugleich, weil sie in den Sommerferien hatte lernen müssen, aber immerhin eine Woche lang Einzeltraining mit Wadne bekommen hatte. Auch Elnar kam drei Tage vor Schulbeginn wieder und hatte allerhand zu erzählen, von neuen Heilmethoden, einem neuen Geschwisterchen und einem neuen Haus, was sich seine Eltern mit Hilfe des jährlichen Zuschusses der Reiter kaufen konnten. Neolyt beneidete ihn darum, bei seiner Familie gewesen zu sein, sie vermisste ihr Rudel stärker denn je.

      Dann ging der Alltag wieder los. Die Korridore wurden von Schülern und deren Gelächter und Geplapper erfüllt. Der in den Ferien wie ausgestorbene Bau erwachte zum Leben. Als Willkommensgruß an alle Lehrer wurden von irgendjemandem Momenfalter-Geschöpfe in den Gängen ausgesetzt und noch am Abend schwirrten einige bunt leuchtende Feenkobolde durch die Stockwerke.

      Neolyt hatte einen völlig neuen Stundenplan bekommen und legte in der ersten Schwertkampfstunde die Prüfung ab, da sie in den Sommerferien keine Zeit mehr dazu gefunden hatte. Am nächsten Tag setzte sie auch den Unterricht bei Deor fort, der wieder ordnungsgemäß im Klassenzimmer abgehalten wurde. Auch bekam sie gleich am ersten Tag einen Stapel an Hausaufgaben mit, doch das störte sie nicht, da Baumwesen einfach unglaublich interessant waren. Sie gehörten zur Familie der Elementgeister und es gab zwar unendlich viele verschiedene und unterschiedlich mächtige von ihnen, aber Neolyt ließ sich auch von Deas, dem Bibliothekar, nicht davon abbringen, bereits am Wochenende darauf in verschiedensten Büchern nach ihnen zu stöbern, zumal Marcelo Lumis, begeistert von ihrem Lerneifer, ihr ein Buch nach dem anderen zeigte und empfahl. In vielen der Bände waren wunderschöne, detaillierte Zeichnungen der einzelnen Geschöpfe zu sehen und Neolyt verbrachte ihre geringe Freizeit damit, sie zu kopieren, bis sie schließlich feststellen musste, dass ihre Kritzeleien den Abbildungen nicht im Mindesten ähnelten und sie diese frustriert in den Müll entsorgte.

      Aus dem Sommer wurde Herbst und aus dem Herbst schließlich der Winter, doch Neolyt bemerkte es kaum, da Deor sie geschickt mit so vielen Aufgaben gleichzeitig beschäftigte, dass sie nie dazu kam, die Ausgangszeiten ihres Jahrgangs wahrzunehmen. Aber sie verübelte es ihm nicht, denn sie wusste, dass er sich Sorgen um sie machte.

      Trotzdem war sie froh, als sie endlich einmal wieder die Zeit fand, den Bau für ein paar Stunden zu verlassen. Elly und Yewan waren dabei, Elnar hatte ursprünglich ebenfalls mitkommen wollen, doch jemand hatte eine merkwürdige Vergiftung bekommen, die er sich unbedingt ansehen wollte. Erstaunt betrachtete Neolyt die wenigen weißen Flocken, die vom Himmel herabtanzten, als sie den Bau durch einen der getarnten Ausgänge verließen.

      „Es ist schon Schneezeit?“, fragte sie verwundert.

      „Ja. Kein Wunder, dass du Stubenhocker das nicht mitbekommen hast“, frotzelte Yewan.

      „Was soll ich denn machen, wenn ich so viele Hausauf­gaben habe?“

      „Ein paar ‚vergessen’“, antwortete er wie aus dem Gewehr geschossen, als wäre das selbstverständlich.

      „Aber das geht doch nicht“, wandte sie ein.

      „Natürlich, das machen Elly und ich ständig.“

      Elly sah ein wenig verlegen drein. „Na ja, nur ganz selten“, meinte sie schließlich.

      „Ich mach das nicht“, sagte Neolyt und Yewan zuckte ergeben mit den Schultern.

      „Bitte. Aber sag später nicht, ich hätte dir nichts davon erzählt.“

      Sie stapften durch den noch niedrigen Schnee bis zum Spiegelsee und ließen sich auf einem der größeren, flachen Steine nieder, von dem der Wind den Schnee wieder heruntergeweht hatte. Tatsächlich pfiff er hier, außerhalb des Schutzes der Bäume, höchst unangenehm, sodass ihre Finger bald taub waren.

      „Kommt, lasst uns ein paar Steine fitschen, damit uns wieder warm wird“, schlug Elly vor.

      „Was heißt das? Steine fitschen?“, fragte Neolyt.

      „Wir zeigen’s dir.“ Elly und Yewan sprangen auf.

      Neolyt folgte den beiden neugierig, während sie ein paar Steine aufsammelten und zum Ufer gingen.

      „Gut, dass der See keine Wellen schlägt, da klappt das besser“, sagte Elly.

      „Aber auch ein bisschen merkwürdig, oder? Bei dem Wind“, warf Yewan ein.

      Er erwies sich als ein wahrer Meister darin, die Steine über das Wasser hüpfen zu lassen. Neolyt beobachtete interessiert, wie er einige Schritte Anlauf nahm und den Stein dann gekonnt aus dem Handgelenk warf, der tatsächlich vierzehn Kreise auf der glatten Oberfläche des Sees hinterließ, bevor er unterging.

      „Wie machst du das?“, fragte Neolyt und trat zu ihm, während Elly ihrerseits Anlauf nahm und warf, doch ihr Stein sank schon nach dem fünften Sprung.

      Yewan drückte Neolyt einen der flachen Kiesel in die Hand. „Du musst ihn so halten, dass der Zeigefinger am Rand anliegt und der Daumen drüber und der Rest drunter ist und dann muss er parallel zum Wasser gehalten werden.“ Er machte es ihr vor und warf den Stein, der zehnmal in weiten Sprüngen über den See hüpfte. Mehr schlecht als recht versuchte sie, es ihm nachzumachen, doch der Kiesel plumpste mit einem lauten Platschen ins Wasser, ohne auch nur einen winzigen Hüpfer getan zu haben.

      „Das klappt nie beim ersten Versuch“, tröstete er sie. „Hier liegen genug Steine, mit denen du üben kannst.“

      Sie übten noch lange, und auch wenn Neolyt es partout nicht schaffen wollte, einen Stein zum Hüpfen zu bringen, befand sie den Tag eindeutig als den besten des bisherigen Schuljahres.

      Irgendwann wurde ihnen langweilig und sie wanderten um den See herum. Ungefähr am gegenüberliegenden Ufer stand ein Baum, der seine kräftigen Äste weit über das Wasser hinausstreckte. Sie ließen sich einige Schritte vom Ufer entfernt über den sachten Wellen nieder und ruhten sich aus. Yewan lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Wölbung des Astes und sah in die kahle Baumkrone hinauf.

      „Es tut gut, endlich mal entspannen zu können“, meinte er und Elly und Neolyt nickten zustimmend.

      Elly hatte ihre langen blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr über den Rücken fielen und an den einige Schneeflocken hingen. Sie rieb ihre Hände und blies hinein, natürlich hatten sie vergessen, die Handschuhe mitzunehmen. Auch Neolyt konnte ihre Finger kaum noch spüren, aber sie wollte gern noch etwas bleiben, deswegen sagte sie nichts.

      Yewan hatte seinen Blick vom grauen Himmel abgewandt und ließ ihn nun über das Wasser gleiten, bis er plötzlich aufsprang und wie gebannt hinabstarrte.

      „Da war etwas“, sagte er leise. „Etwas ziemlich Großes.“

      Neolyt sah ihn an, unsicher, ob er sie wieder einmal auf den Arm nahm, doch ein Blick zu Elly verriet ihr, dass auch diese etwas gesehen zu haben schien.

      „Wie sah es aus?“, fragte sie.

      „Ich weiß nicht. Wie ein großer Schlauch, aber doppelt so dick wie der Baum da.“ Yewan deutete auf den Stamm, dem der Ast entspross, auf dem sie saßen. Elly nickte.

      „Es könnte eine Spiegelung gewesen sein“, wandte sie ein, doch Yewan schüttelte den Kopf.

      „Es war da“, beteuerte er. „Lasst uns gehen.“

      Schweigend traten sie den Rückweg an und sahen nur hin und wieder kurz auf den See, gespannt, ob noch etwas passieren würde, und sich gleichzeitig davor fürchtend.

      Es war schon dunkel,