Nach der Definition des EuGH geht es um die Möglichkeit, sich Wettbewerbern, den Abnehmern und letztlich den Verbrauchern gegenüber in wesentlichem Umfang unabhängig zu verhalten.28 Damit wird zum einen anerkannt, dass vollständig unabhängiges Verhalten in der Regel nicht möglich ist; zum anderen wird hier aber auch berücksichtigt, dass jedenfalls im Bereich heterogener Produkte jeder Anbieter einen gewissen Verhaltensspielraum hat. Die Definition macht klar, dass die Frage danach, wann eine beherrschende Stellung zu bejahen ist, eine Maß- und Gradfrage ist.
Wenngleich der Begriff der marktbeherrschenden Stellung in Art. 102 AEUV und in Art. 2 der FKVO undifferenziert Verwendung findet und damit ähnlich wie in § 19 GWB eine formale Identität von Marktbeherrschung im Rahmen der Missbrauchsaufsicht einerseits und der Fusionskontrolle andererseits besteht, bedingen die unterschiedlichen Regelungsbereiche in gewissem Umfang eine unterschiedliche, zweckgebundene Ausfüllung.29
18 So könnte eine geringe Differenz zwischen Preis und Grenzkosten bei einem Monopol auf überhöhte Grenzkosten, d.h. produktive Ineffizienzen hindeuten. 19 Vgl. Office of Fair Trading (2002), 43–51 sowie Geroski (2003). 20 Vgl. Bishop/Walker (2010), 227. Dies soll keinesfalls die Gleichsetzung der Konzepte signifikanter Marktmacht im ökonomischen Sinne und Marktbeherrschung im juristischen Sinne bedeuten. Der juristische Begriff der Marktbeherrschung umfasst, neben dem ökonomischen Aspekt, noch weitere Aspekte, wie z.B. den Schutz von Freiheitsrechten Dritter, die im ökonomischen Konzept der Marktmacht bestenfalls indirekt eine Rolle spielen. 21 Glossar der Wettbewerbspolitik der EU, GD Wettbewerb, Brüssel 2002, abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/competition/publications/glossary_de.pdf (Hervorhebung durch Verf.). 22 ABl. v. 5.2.2004 C 31/5, Rdnr. 8. 23 EuGH, Urt. v. 13.2.1979, Rs. 85/76 – Hoffmann-La Roche, Slg. 1979, 461, Rdnr. 38 u. 39; EuG, Urt. v. 24.4.1996, Rs. T-102/96 – Gencor, Slg. 1999, II-753, Rdnr. 200; Komm. v. 17.10.2001 (COMP/M.2187) – CVC/Lenzing, Rdnr. 136. Es wurde auf S. 22 Fn. 35 bereits darauf hingewiesen, dass selbst ein reines Monopol sich nicht völlig unabhängig von seinen Abnehmern verhalten kann, da es die Nachfragefunktion bei seiner Entscheidung berücksichtigen muss. 24 Vgl. 362, 406f. 25 Komm. v. 2.10.1991, (COMP/M.53) – Aerospatiale-Alenia/de Havilland, Rdnr. 69; vgl. ferner Komm. v. 11.12.1998 (IV/M.1293) – BP/Amoco, Rdnr. 37: „The Combination of BP and Amoco would not amount to a dominant position. (...) it is dubious that any price increase might be successful as any of the (...) customers have strong countervailing power.“; Komm. v. 3.5.2000 (IV/M.1693) – Alcoa/Reynolds, Rdnr. 85, 94, 112, 124; Komm. v. 3.7.2001 (COMP/M.2220) – GE/Honeywell, Rdnr. 427; Komm v. 31.1.2003 (COMP/M.3060) – UCB/Solutia, Rdnr. 42; Komm. v. 2.10.2003 (COMP/M.3191) – Philip Morris/Papastratos, Rdnr. 36: „In view of the foregoing, the Commission concludes that the new entity is unlikely to have either the ability or the incentive to unilaterally raise prices post-merger to the detriment of the consumers.“ (Freigabe); Komm v. 26.10.2004 (COMP/M.3426) – Phoenix/Continental, Rdnr. 141, 176; Komm. v. 9.12.2004 (COMP/M.3440) – EDP/ENI/GDP, Rdnr. 422ff., 428: „It follows from these findings that, as a result of the operation, EDP will have the ability and the incentive to significantly foreclose its competitors (...) by raising the level of gas prices (...). This factor, in itself, will strengthen EDP’s dominant position (...).” (Untersagung). 26 Komm. v. 17.10.2001 (COMP/M.2187) – CVC/Lenzing, Rdnr. 161ff. 27 Komm. v. 26.10.2004 (COMP/M.3216) – Oracle/People Soft, Rdnr. 191, 205; ebenso Komm. v. 7.1.2004 (COMP/M.2978) – Lagardère/Natexis/VUP, Rdnr. 700ff. 28 EuGH, Urt. v. 11.12.1980, Rs. 31/80 – L’Oréal, Rdnr. 30. 29 So auch ausdrücklich die Leitlinien der Kommission zur Marktanalyse und Ermittlung beträchtlicher Marktmacht nach dem gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, ABl. 2002 C 165/06, Rdnr. 70: „Bevor diese neue Definition der beherrschenden Stellung ex-ante angewendet werden kann, ist jedoch die Methode zur Ermittlung der Marktmacht anzupassen. Bei der ex-ante Beurteilung, ob Unternehmen alleine oder gemeinsam auf dem relevanten Markt eine beherrschende Stellung einnehmen, sind die nationalen Regulierungsbehörden grundsätzlich auf andere Hypothesen und Annahmen angewiesen als eine Wettbewerbsbehörde bei der Ex-Post-Anwendung von Art. 82 im Hinblick auf eine angebliche missbräuchliche Ausnutzung.“
C. Feststellung von Marktmacht und Marktbeherrschung
Um das Vorhandensein eines unabhängigen Verhaltensspielraums und damit das Bestehen einer Einzelmarktbeherrschung auf dem betroffenen Markt zu prüfen, bestehen im Prinzip zwei Möglichkeiten: Zum einen eine direkte Feststellung des Vorliegens von signifikanter Marktmacht bzw. einer marktbeherrschenden Stellung und zum anderen eine indirekte Ermittlung über den Weg der Abgrenzung des relevanten Marktes und der Bestimmung von Marktanteilen. In diesem Zusammenhang sind darüber hinaus auch die Angebotssubstitution und der potentielle Wettbewerb zu berücksichtigen.
I. Direkte Feststellung von Marktmacht
Um festzustellen, ob Marktmacht eines Unternehmens oder einer Gruppe von Unternehmen vorliegt, könnte man den Lerner-Index bzw. die Elastizität der entsprechenden Residualnachfrage heranziehen und versuchen, durch eine Messung dieses Index den Grad der Marktmacht zu bestimmen.30 Geht man von der prozentualen Abweichung des Preises von den Grenzkosten aus, dann wird der Preis des Gutes im Allgemeinen die empirisch am einfachsten zu beobachtende Größe sein.31 Die Erfassung der Grenzkosten bzw. der inkrementellen Kosten bereitet jedoch in mehrerer Hinsicht gravierende Schwierigkeiten. So sind die Grenzkosten in erster Linie ein theoretisches Konzept und lassen sich daher in der Praxis im Allgemeinen nicht oder nur sehr schwer ermitteln, selbst wenn die technischen Produktionsbedingungen bekannt sind.32 Zwar können bisweilen die variablen Stückkosten beobachtet werden, aber es handelt sich dabei um buchhalterische Kosten, nicht aber um die für eine ökonomisch korrekte Analyse erforderlichen Opportunitätskosten. Weiterhin müssen die langfristigen Grenzkosten herangezogen werden, deren Ermittlung noch weitaus größere Schwierigkeiten bereitet. Zieht man nur die kurzfristigen Grenzkosten bzw. die variablen Stückkosten heran, so könnte man leicht zu einer falschen Einschätzung der Marktmacht gelangen. So liegt in Branchen, die mit hohen Fixkosten operieren, wie z.B. der Softwareindustrie, der Marktpreis weit über den kurzfristigen Grenzkosten. Diese Differenz ist jedoch kein Zeichen von Marktmacht, sondern dient lediglich dazu, zur Deckung der fixen Kosten beizutragen. Darüber hinaus können bei Unternehmen mit signifikanter Marktmacht aufgrund von X-Ineffizienzen überhöhte Kosten vorliegen, sodass selbst die Feststellung der Grenzkosten keine Aussage über