Auch ist zu berücksichtigen, dass die Beschreibung von Marktmacht durch die Abweichung des Preises von Grenzkosten in erster Linie dazu geeignet ist, allokative Ineffizienzen zu erfassen; mit gewissen Einschränkungen kann der Lerner-Index darüber hinaus ein Indiz für das Vorliegen produktiver Ineffizienzen sein.18 Es handelt sich bei diesem Index eher um ein statisches Konzept, mit dem man keine Aussagen über die dynamische Effizienz treffen kann. Wie auf den Seiten 21f. und 50–54 dargelegt, ist für die Gewährleistung dynamischer Effizienz jedoch ein gewisses Maß an Marktmacht erforderlich. Hier findet der Wettbewerb zwischen den Unternehmen nicht mittels Preisen oder Mengen statt, sondern durch Prozess- oder Produktinnovationen. Dieser Wettbewerb kann nur dann funktionieren, wenn die Unternehmen, die in Forschung und Entwicklung investieren, auch die Möglichkeit haben, sich die Erträge ihrer Investitionen anzueignen. Dies kann z.B. durch einen Patentschutz erreicht werden, der einem Unternehmen Marktmacht zumindest für einen gewissen Zeitraum vermittelt. Auch hat die Untersuchung verschiedener Marktstrukturen deutlich gemacht, dass dynamische Effizienz eher in einem oligopolistischen Markt zu erwarten ist. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass es, insbesondere für die Frage der dynamischen Effizienz, im Allgemeinen wettbewerbspolitisch nicht sinnvoll ist, jegliche Marktmacht, d.h. jedes Abweichen des Preises von den Grenzkosten zu verhindern. Marktmacht und Effizienz sind daher keine diametralen Gegensätze, sondern ein gewisses Maß an Marktmacht kann für dynamische Effizienz erforderlich sein. Die Beschränkung auf den Preisaspekt würde den Wettbewerb mittels Innovationen unberücksichtigt lassen. Vollkommener Wettbewerb sollte daher nicht das Ziel einer ökonomisch sinnvollen Wettbewerbspolitik sein. Nach in den Wirtschaftswissenschaften weithin akzeptierter Auffassung ist vielmehr ein wirksamer Wettbewerb (Effective Competition) anzustreben, der am ehesten geeignet ist, die ökonomischen Ziele der allokativen, produktiven und dynamischen Effizienz zu erreichen und marktmachtbedingte Umverteilungen zu vermeiden (Konsumentenwohlfahrtsstandard).
Welches Maß an Marktmacht akzeptiert werden sollte, d.h. was unter wirksamem Wettbewerb konkret verstanden werden soll, hängt auch davon ab, ob eher eine kurzfristige oder eine langfristige Betrachtung zugrunde gelegt wird. Wird großes Gewicht auf die kurzfristigen Auswirkungen von Marktmacht gelegt, dann gehen die allokativen Aspekte weitaus stärker in die Erwägungen ein als bei einer langfristigen Betrachtung. Daher ist das Konzept des wirksamen Wettbewerbs auch durch normative Setzungen beeinflusst. Weiterhin ist für die Konkretisierung des Konzeptes des wirksamen Wettbewerbs auch die praktische Umsetzbarkeit von Bedeutung. So werden geringe Grade von Marktmacht nicht ermittelbar sein; vielmehr ist diese praktisch erst dann festzustellen, wenn sie oberhalb einer Mindestgrenze liegt. Wirksamer Wettbewerb liegt demnach dann vor, wenn ein bestimmter, auch normativ festgelegter Grad an Marktmacht nicht überschritten wird. Dieser Grad an Marktmacht kann für verschiedene Märkte unterschiedlich bestimmt werden. So könnte in Märkten, in denen Innovationen den zentralen Wettbewerbsparameter bilden, eine größere Marktmacht akzeptabel sein, da der Wettbewerb nicht im Markt, sondern um den Markt stattfindet, als z.B. in ausgereiften Märkten, in denen keine bedeutenden Innovationen zu erwarten sind.19 Ein ähnliches Argument gilt für Industrien, in denen erhebliche Fixkosten anfallen, die durch Preise oberhalb der Grenzkosten gedeckt werden müssen. Ein solches Konzept des wirksamen Wettbewerbs bietet darüber hinaus die Möglichkeit, eine Verbindung zwischen dem ökonomischen Begriff der Marktmacht und dem juristischen Begriff der Marktbeherrschung herzustellen. Da wirksamer Wettbewerb im Sinne der oben gegebenen Definition erst dann beschränkt wird, wenn die Marktmacht eine bestimmte Grenze überschreitet, könnte ein derartiges Maß an Marktmacht als Marktbeherrschung interpretiert werden.20 Dabei ist allerdings zu beachten, dass auch Marktbeherrschung nicht notwendig negativ zu beurteilen ist. Wenn ein Unternehmen z.B. aufgrund einer innovativen kostensparenden Technologie eine marktbeherrschende Stellung erreicht hat, ist dies eine normale Begleiterscheinung eines wirksamen Wettbewerbs und erfordert keinen wettbewerbspolitischen Eingriff. Wenn allerdings Marktmacht durch Verhaltensweisen erreicht wurde, die nicht wettbewerbskonform sind, oder wenn eine marktbeherrschende Stellung dazu missbraucht wird, andere Wettbewerber zu behindern, ist durch entsprechende Maßnahmen sicherzustellen, dass ein wirksamer Wettbewerb wiederhergestellt wird. Auch aus ökonomischer Sicht ist daher zwischen Marktbeherrschung und dem Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zu unterscheiden.
Der Zusammenhang zwischen den Begriffen der Marktbeherrschung und der Marktmacht ist in der Rechtspraxis heute allgemein anerkannt. So findet sich im Glossar der Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission unter dem Begriff der beherrschenden Stellung folgenden Definition: „Ein Unternehmen hat eine marktbeherrschende Stellung inne, wenn es in der Lage ist, sein Verhalten unabhängig von seinen Wettbewerbern, Kunden, Lieferanten und letztlich den Endverbrauchern zu bestimmen. Ein beherrschendes Unternehmen mit einer derartigen Marktmacht könnte die Preise über dem Wettbewerbsniveau festlegen, Produkte von minderwertiger Qualität verkaufen oder seine Innovationsrate unter das Niveau absinken lassen, das auf einem Wettbewerbsbestimmten Markt vorhanden wäre. (...).“21 Eine ähnliche Formulierung findet sich in den Leitlinien zur Bewertung horizontaler Unternehmenszusammenschlüsse:22 „Mit der Fusionskontrolle verhindert die Kommission Zusammenschlüsse, die geeignet wären, den Verbrauchern diese (niedrige Preise, hochwertige Produkte, Innovation etc.) Vorteile vorzuenthalten, indem die Marktmacht der Unternehmen spürbar erhöht würde. Erhöhte Marktmacht bezeichnet die Fähigkeit eines oder mehrerer Unternehmen, Gewinn bringend die Preise zu erhöhen, den Absatz, die Auswahl oder Qualität der Waren oder Dienstleistungen zu verringern, die Innovation einzuschränken oder die Wettbewerbsparameter auf andere Weise zu beeinflussen.“
Der Begriff der Marktbeherrschung, der bis zum 1.5.2004 als zentrales Kriterium für die Europäische Fusionskontrolle galt und dem auch heute sowohl dort als auch im Rahmen der Missbrauchsaufsicht des Art. 102 AEUV eine grundlegende Bedeutung zukommt, ist im europäischen Recht nicht positivrechtlich definiert. Die Entscheidungspraxis von Gerichten und Kommission zu Art. 86 EGV (heute Art. 102 AEUV) hat zu einer Begriffsbestimmung geführt, nach der eine marktbeherrschende Stellung anzunehmen ist, wenn ein Unternehmen eine wirtschaftliche Machtstellung besitzt, die es in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem Markt zu verhindern, indem sie ihm die Möglichkeit verschafft, sich seinen Wettbewerbern, seinen Abnehmern und letztlich den Verbrauchern gegenüber in einem wesentlichen Umfang unabhängig gegenüber zu verhalten.23 In ihrem XXI. Wettbewerbsbericht24 hat die Kommission ausgeführt, dass sie bei der Auslegung von Art. 2 Abs. 3 FKVO im Wesentlichen der vom Gerichtshof für die Anwendung von Art. 86 (jetzt Art. 102 AEUV, vormals Art. 82 EG) gegebenen Definition einer beherrschenden Stellung folgen wolle. Unterschiede könnten sich allerdings aufgrund der Zukunftsbezogenheit der Zusammenschlusskontrolle und deren stärker strukturorientiertem Ansatz ergeben. Während für die Anwendung dieser recht abstrakten Definition im Rahmen der retrospektiven Missbrauchskontrolle eine bestimmte Verhaltensweise bereits Ausdruck gesteigerter Marktmacht sein kann und damit ein konkreter Anknüpfungspunkt für die Feststellung der Möglichkeit zu weitgehend unabhängigem Verhalten gleichsam mit an die Hand gegeben ist, stellt sich die Situation bei der prospektiven Fusionskontrolle wesentlich schwieriger dar.
Den mit der beherrschenden Stellung verbundenen Nachweis eines nicht hinreichend kontrollierten Verhaltensspielraums hat die europäische Rechtspraxis insbesondere im Bereich der Fusionskontrolle in zunehmendem Maße als Preissetzungsspielraum konkretisiert, d.h. als die Fähigkeit des betreffenden Unternehmens, die Preise anzuheben, ohne