Zum zweiten Mal in kurzer Zeit wechselte die Umgebung im Blickfeld des Iatas. Dieses Mal jedoch nicht sanft und unmerklich, sondern ruckartig und mit einem stechenden Schmerz, der sich von der Stelle, an der Loës ihn berührt hatte, netzartig über seinen gesamten Körper ausbreitete. Die ewige Einöde des Karaschja-Gebirges zog unnatürlich schnell vor Skals Augen dahin, sodass er das allumfassende Weiß mit den darin aufragenden graubraunen Felsen nur noch als verschwommenes Bild wahrnahm, in dem die Farben ineinander überzulaufen schienen. Das Einzige, was konstant vor ihm bestehen blieb, war der in schwarzes Tuch gehüllte Leib, das langgezogene Gesicht mit den eingefallenen Wangen und die alles durchdringenden Augen, die sich in ihrer Dunkelheit sogar noch von dem Stoff abhoben.
Der Schmerz wurde immer schlimmer und als Skal das Gefühl hatte, tausende kleine Dolche würden sich ihm gleichzeitig an jeder Stelle seines Körpers durch die Haut bohren, endete es ebenso plötzlich wie es begonnen hatte.
Loës hatte seinen Finger zurückgenommen und das Vorbeiziehen der Landschaft ebbte augenblicklich ab. Die verschwommenen Farben wichen einem schwachen, orangegelben Schimmer, der von rauen Steinwänden zurückgeworfen wurde. Skal brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, dass er nicht mehr aufrecht stand, sondern auf weichem Stoff gebettet lag und dass das, was er ansah, die Decke seines Schlafquartieres war. Es vergingen weitere Atemzüge, bis ihm klar wurde, dass er das Innere des Tempels, in dem er erst vor wenigen Stunden gemeinsam mit Loës angekommen war, nie verlassen hatte.
Obwohl ihm kalte Schweißperlen auf der Stirn standen und sein Atem raste, blieb er dennoch ruhig liegen. Skal verspürte kein Bedürfnis, Loës danach zu fragen, was all dies zu bedeuten hatte, denn er wusste, dass sein Gebieter jeden Moment von sich aus erklärend das Wort an ihn richten würde. Er drehte lediglich den Kopf ein wenig nach rechts, damit das Gesicht seines Herren, welches im flackernden Schein dreier Kerzen noch gespenstischer aussah als sonst, komplett in sein Blickfeld rückte.
Wie eine Mutter, die an der Nachtstätte ihres Kindes hockte, saß der Albengott auf seiner Bettkante und sah zu ihm herab. Selbst im hellen Tageslicht hätten sich seine Gesichtszüge unmöglich deuten lassen. Wut, Zufriedenheit, Überraschung, alles mochte Loës in diesem Augenblick gleichzeitig durch den Kopf gehen. Und genauso klang auch seine Stimme, als er nach schier endloser Zeit des Schweigens wieder das Wort ergriff.
»Ihr Menschen seid schon ein seltsames Volk. Euer Tatendrang ist groß, doch der Wille schwach. Nur allzu leicht kann man euch etwas vorgaukeln, was nicht ist und eure Gedanken dabei in die gewünschte Richtung lenken, sodass ihr tanzt wie die Marionetten. Erst recht, wenn ihr schlaft. Wenn ihr euch in euren viel gerühmten Träumen sicher glaubt und auch die Geistesstarken unter euch – zu denen ich dich zweifelsohne zähle – jeden Schutz fahren lassen, da sie sich frei fühlen, wie der Vogel im Wind. Weißt du, dass Götter nicht träumen können? Uns ist es lediglich vergönnt, den Sterblichen im Traum zu erscheinen.«
Skal schüttelte langsam den Kopf. Und nach einigen weiteren Momenten der Stille beschloss er, die Frage an Loës zu richten, welche ihm auf der Zunge brannte, seit ihm bewusst geworden war, dass er sich ihm und nicht Cedryks verstorbenem Geist anvertraut hatte. »Was geschieht nun mit mir?« Obwohl er all seinen Mut zusammengenommen und sich jedes einzelne Wort zurechtgelegt hatte, klang seine Stimme zitternd und brüchig. »Werdet Ihr mich nun töten?«
»Oh nein, im Gegenteil.« Loës lachte über die Einfältigkeit des Menschen auf. »Wenn ich entschieden hätte, dass du den Tod verdienst, so wärst du aus deinem Traum nicht mehr erwacht, dessen sei dir sicher, Skal. Obwohl du dir das Sterben in Kürze sicher herbeisehnen wirst.« Erneut lachte der Dunkle Herrscher, amüsiert über das fragende Gesicht seines Untergebenen. Aufgrund des imposanten Eindrucks, den er auf ihm machte, wagte der Iatas noch immer nicht, seinen Oberkörper aufzurichten.
Loës genoss es, den Mensch in all seiner Qual vor sich liegen zu sehen. Nicht wissend, was ihn erwartete und um Worte ringend, die ihm vor lauter Angst einfach nicht über die Lippen kommen wollten.
»Du warst ehrlich zu mir, auch wenn es nicht deine Absicht war«, sprach der Albengott schließlich, um Skal nicht mehr unnötig leiden zu lassen ... zumindest noch nicht. »Die Tatsache, dass du mir am Ende, wenn auch nach einigen Umwegen, schließlich doch die Treue hältst, rettet dir das Leben. Dennoch kann ich den zeitweiligen Verrat, den du an mir verübt hast, indem du mich mit Hilfe deiner lächerlichen Schüler hintergehen wolltest, nicht einfach so verzeihen. Ich muss sichergehen, dass es nie wieder etwas geben wird, das deine Traue zum Wanken bringt.«
»Es wird nie wieder etwas geben, Meister, das schwöre ich euch«, bemühte Skal sich schnell zu versichern.
»Dennoch musst du für deinen Ungehorsam und deine Respektlosigkeit bestraft werden oder waren es nicht deine Worte, dass du mich an die kurze Leine nehmen wolltest?«
Skal verstummte und senkte augenblicklich in ehrerbietender Demut das Haupt. Da er bereits auf dem Rücken lag, verfehlte die unterwürfige Geste ein wenig ihre Wirkung, da er im schwachen Kerzenschein nun so aussah wie ein alter Mann, dem beim Schlafen der Kopf nach vorn gekippt war. Loës wusste es trotzdem anzuerkennen und zufrieden stellte er fest, dass er in ihm einen würdigen Diener gefunden hatte. Der Schmerz und die Folter, die in den nächsten Stunden Skals Lehrmeister sein sollten, würden ihr Übriges tun und ihn zu seinem perfekten Sklaven machen. Anders als eine gewisse Person, von der Loës mehr als enttäuscht war und die er durch den Iatas zu ersetzen gedachte.
Gemächlich erhob sich der Gott der Alben von der Bettkante und ging zur Tür, doch bevor er sie durchschritt, verweilte er noch einen Moment. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Skal den Kopf immer noch unterwürfig so weit wie möglich auf die Brust gedrückt hatte. Die Ohren des Mannes waren jedoch gespitzt, um ja kein Wort seines neuen Gebieters zu überhören.
»Es mag dir für die Dauer deiner Bestrafung nur ein geringer Trost sein, doch um deine Frage zu beantworten: Ja, ich werde deinem Volk den ersehnten Frieden bringen.«
Schmerzhaftes Erwachen
Schmerz durchflutete seinen Schädel. Das Erste, was Darius wahrnahm, lange bevor er die Augen öffnen konnte, war ein Pochen in seinem Kopf. Ausgehend von der rechten Schläfe zog es sich, hammerschlagartig, quer durch sein ganzes Hirn.
Warum er diese Qualen durchlitt, wusste er nicht. Darius wusste bloß, dass er sich den Zustand der süßen Ohnmacht wieder zurückwünschte, aus der er gerade im Begriff war zu erwachen. Er wusste auch nicht, wo er sich befand, geschweige denn wie er hierher gekommen oder was mit ihm passiert war. Doch selbst die einfachsten Bewegungen, mit denen man diese Fragen sonst rasch aus dem Weg räumen konnte, waren für den jungen Mann unerträglich.
Bei dem Versuch, die Augen zu öffnen, verspürte er nur noch mehr Schmerzen, so als hätte jemand seinen Sehnerv gepackt und würde nun mit einem Ruck daran ziehen. Instinktiv wollte er sich die Hände auf die Lider pressen, doch es gelang nicht. Der fehlgeschlagene Versuch, etwas zu sehen und die damit verbundenen Qualen – welche im Gegensatz zu dem dauerhaften Klopfen in seinem Schädel einem glühend heißen Einstich gleichkamen – ließen Darius nun vollständig aus seiner Trance erwachen.
Ein Vorteil war das jedoch nicht. Nun, da sein Bewusstsein in jedem einzelnen Teil seines Körpers wieder Einzug gehalten hatte, nahm er auch die Schmerzen umso deutlicher wahr. Es gab kaum eine Stelle, die nicht wehtat. Dabei war die Pein vielseitig wie die Farben einer Mischpalette und reichte von leichtem,