Ciel starrte auf den Teller, streckte die Hand aus und wollte sich gerade eines der belegten Brote nehmen, doch plötzlich zögerte sie. »Du hast das Essen doch nicht etwa vergiftet?«
Der Junge lachte. »Du bist viel zu wertvoll, um dich zu töten.«
Ciel fand seine Worte komisch, und auch, dass er über sie Bescheid wusste, aber ihr Magen knurrte, und sie hatte seit Tagen nichts Anständiges gegessen, also griff sie zu und machte sich über ein Schinkenbrot her.
Der Junge lächelte, während er ihr beim Essen zuschaute, doch dann wurde seine Miene plötzlich traurig, und das Funkeln in seinen Augen erlosch. »Ciel, hör mal …«
»Woher kennst du denn nun meinen Namen?«, unterbrach sie ihn, nachdem sie hastig zu Ende gekaut hatte. »Und woher weißt du so viele Dinge über mich? Sind wir uns schon mal irgendwo begegnet? Bist du ein Kunde von meinem Chef?«
Warum nur spürte sie so eine starke Verbundenheit zu diesem Jungen, obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte? Trotzdem kam es ihr so vor, als hätte sie einen Kindheitsfreund nach Jahren wiedergetroffen, ohne jedoch seinen Namen zu kennen. Dennoch spürte sie, dass da etwas zwischen ihnen war.
»Ich bin das nicht gewesen mit dem Feuer, okay?«, sagte der Junge traurig, ohne auf ihre Fragen einzugehen. »Ich bin zwar anders als die Menschen, die du kennst, aber es gibt Leute, wie d–« Er stockte und schüttelte den Kopf, als hätte er etwas sagen wollen, das er nicht sagen durfte. »Ich meine, Leute, die dir sehr ähnlich sind und solche ungeheuren Kräfte haben, die du dir nicht mal im Traum vorstellen kannst. Auch du hast besondere Kräfte, aber wenn du deine Gefühle nicht unter Kontrolle hast, passiert so etwas wie heute. Du hast mit einem einzigen Blick dafür gesorgt, dass der Supermarkt in Brand stand. Aber der Verkäufer ist nicht deinetwegen gestorben. Du tötest keine Menschen, im Gegenteil.«
Ciel wollte gerade den nächsten Bissen nehmen, als sie erstarrte und den Mund schloss. Fassungslos starrte sie ihn an. Doch der Junge sprach einfach weiter, ohne auf ihre Verblüffung zu reagieren.
»Nein, du bist eigentlich von friedlicher Natur. Das gerade war ein Unfall. Und das mit dem Verkäufer, war sie. Sie hat das getan! Sie kann auch nichts dafür, aber wo immer sie hingeht, zieht sie eine Spur von Leichen hinter sich her. Aber du bist ihr Gegenstück! Du bist anders. Du kannst heilen und sogar tote Tiere wieder ins Leben zurückholen. Doch wenn du verzweifelt oder wütend bist, wird der Funken in dir, dein Licht, unkontrollierbar hell erstrahlen und … ja, dann geschehen halt solche furchtbaren Brände. Also, hör zu, ihr …«
»Ich verstehe dich nicht. Ich verstehe kein einziges Wort. Du redest wirres Zeug, du Spinner!« Ciel blickte ihn ängstlich an und legte das Brot, das sie sich gerade genommen hatte, zurück auf den Teller. Ihr war der Appetit vergangen. Wieder zitterte sie am ganzen Körper, und doch regten seine Worte etwas tief in ihr. Ihre Haut kribbelte, und ihr Herz schlug schneller.
»Ich glaube, ich sollte jetzt besser gehen.« Sie wollte aufstehen und davonlaufen. Raus aus der Hütte und fort von dem unheimlichen Typen, dessen seltsames Gerede ein ungutes Kribbeln in ihrem Inneren auslöste. Doch er hielt sie wieder am Handgelenk fest.
»Nein, bitte hör mir zu. Dein Zwilling ist gefährlich! Du darfst ihr nicht zu nahekommen. Du wirst sterben …«
»So ein Blödsinn! Lass mich sofort los!« Ciel riss sich los, schnappte sich den schlafenden Toivo und rannte mit ihm zur Tür.
»Ciel, warte! Ich muss dir noch etwas sehr Wichtiges sagen!«, schrie der Junge und folgte ihr hinaus aus der Hütte und in die kalte Nacht.
Er hatte sie schnell eingeholt, ehe Ciel in der Lage war, sich zu orientieren und herauszufinden, wo sie sich überhaupt befand. Sie kannte diese Gegend nicht. Stattdessen stand sie mit einem unbekannten Jungen, der sie wieder am Arm festhielt, an einem Strand vor einer schäbigen, heruntergekommenen Hütte. Überall im Sand lagen leere Flaschen und anderes undefinierbares Zeug herum. Tote Möwen wurden von dem Wasser umspült, das gegen das Ufer schlug.
Niemand, nur ein Verrückter, würde auf die Idee kommen, in so einer dreckigen Gegend und in einer so heruntergekommenen Hütte zu wohnen, wie es dieser Junge tat. Es sei denn, dieser Jemand wollte unerkannt und in Ruhe sein Leben leben, abgeschieden von der Zivilisation. Dieser Typ war eindeutig verrückt. Er machte Ciel inzwischen Angst und zwar auf eine Art und Weise, wie sie es nicht in Worte fassen konnte.
»Lass es mich erklären!«, flehte er mit solch einer Verzweiflung in der Stimme, dass sie glaubte, er würde gleich anfangen zu weinen. Er packte sie nun mit beiden Händen an den Schultern und wirbelte sie herum, sodass sie sich ansahen.
»Du bist in großer Gefahr, begreifst du das denn nicht? Du und sie …«
»Nein! Was ist dein Problem? Ich kenne dich nicht einmal! Und jetzt lass mich los.«
Dann tat Ciel etwas, das sie noch nie getan hatte. Sie holte mit der flachen Hand aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.
Der Junge keuchte auf, ließ sie augenblicklich los und taumelte benommen zurück. Ciel ließ die Hand sinken, in der anderen Armbeuge hielt sie noch immer Toivo fest. Als sie den Jungen anblickte, erschrak sie. Die Stelle, auf die sie ihn geschlagen hatte, war mit blutroten, angeschwollen Brandblasen übersäht. Es roch nach verbranntem Fleisch, und Ciel musste von dem Gestank würgen.
»War ich das? Habe ich dir das angetan?«, stammelte sie und starrte auf ihre zitternde Hand. Tränen brannten in ihren Augen. »Ich … wie habe ich das …« Sie hatte ihm mit einem einzigen Schlag die Haut verbrannt.
Doch dem unbekannten Jungen waren keine Schmerzen anzusehen.
»Ciel …« Der Junge trat einen Schritt auf sie zu.
Doch sie wollte kein Wort mehr von ihm hören. Sie wirbelte herum und rannte davon, während Tränen ihr die Sicht nahmen.
»Warte!«, schrie er und wollte ihr nach, doch eine gehässige Stimme hinter ihm hinderte ihn daran.
»Na, Lucien, du hoffnungsloser Fall. Was versuchst du da zu tun?« Ein fieses Lachen ertönte.
Lucien sah Ciel nach, die um eine Ecke bog und verschwand, dann wirbelte er herum. »Oscuro, was tust du hier?«
»Zusehen, wie deine Hoffnung, in den Besitz des Engelszwillings des Lichts zu kommen, immer mehr schwindet.«
Oscuro trat aus dem Schatten der Hütte hervor. »Ich bin gerade zufällig an deiner baufälligen Bruchbude vorbeigekommen und habe Ciel herausstürmen sehen. Etwa ein missglücktes Date?« Er strich sich das dunkle Haar zurück und feixte. »Sie scheint dich nicht sonderlich zu mögen, im Gegenteil. Dein Gesicht sieht furchtbar aus.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die eigene Wange, um auf Luciens verbrannte Gesichtshälfte hinzuweisen.
Lucien tastete nach der schmerzhaften Stelle. Er musste sie schnell heilen lassen, die Wunde brannte höllisch.
»Sie hat überreagiert«, murmelte er und biss sich auf die Lippe.
»So bekommst du sie niemals.« In Oscuros Augen funkelten Hohn und Spott. »Ich werde das jetzt übernehmen.«
»Wenn du es wagst, sie anzufassen …«, knurrte Lucien und hob drohend die Fäuste. »Ich weiß genau, dass deine Pläne, was die Engelszwillinge betrifft, sehr anders sind als meine. Du Verräter! Unsere Mission ist ein und dieselbe, schon vergessen?« Lucien wollte ihm am liebsten die Faust ins Gesicht rammen, doch er hielt sich zurück und fasste sich mit einem tiefen, bebenden Atemzug. »Ich habe jetzt keine Zeit für dein Gequatsche.« Er drehte sich um, um Ciel zu folgen. Er wusste zwar nicht, wo sie jetzt war, aber er würde sie finden. Doch Oscuros eisige Stimme ließ ihn erstarren.
»Worüber hast du mit ihr gesprochen?«
»Ich