Schließlich hatte sie ihren Lieblingsplatz auf der mit Graffiti beschmierten Bank erreicht. Sie setzte sich und nahm Toivo auf den Schoß, der ihr vor Freude mit seiner feuchten Zunge so lange übers Gesicht leckte, bis Ciel kichern musste.
Sie holte aus dem kleinen Plastikbeutel eine Dose Hundefutter heraus, riss sie am Verschluss auf und hielt sie dem Hund hin. Toivo fraß gierig, während sie noch einen Blick in die Plastiktüte warf. Drinnen befanden sich eine große Wasserflasche und eine Brottüte.
Als Ciel sie öffnete, seufzte sie enttäuscht. Etwas hartes Pizzabrot, außerdem zwei Sandwiches, die mit einem undefinierbaren Aufschnitt belegt waren – Ciel vermutete, dass es sich um Käse oder Ei handelte. Nicht sehr appetitlich oder gesund, aber das hier war immer noch besser, als zu hungern.
Sie teilte sich das Wasser mit ihrem Hund, kaute auf einem der trocknen Sandwiches herum und seufzte, als sie Toivo über den Kopf streichelte. »Ich wünschte, ich könnte wenigstens dir ein besseres Leben bieten«, murmelte sie traurig und lächelte, als der Kleine ihre Hand beschnupperte, um noch mehr zu fressen zu bekommen.
Leises Vogelgezwitscher ließ sie aufblicken. Hinter einem geparkten Auto konnte sie einen kleinen Spatzen erkennen, der um einen weiteren Spatz herumhüpfte und dabei aufgebracht zwitscherte. Doch der Vogel, der auf dem Boden lag, regte sich nicht. Vermutlich war er angefahren worden oder gegen eine Scheibe geflogen.
Ciel erhob sich und ging zu dem toten Vogel hinüber. Der aufgeregt piepsende Spatz flog davon, als sie sich bückte.
»Armer kleiner Vogel.« Schnell warf sie einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass sie allein war und niemand sie bei dem beobachtete, was sie gleich tun würde.
Sie wartete, bis eine Mutter mit ihrem nörgelnden Kind im Supermarkt verschwand, dann nahm sie den toten Vogel in die Hände. Die Flügel waren verdreht, der Schnabel stand offen, und die kleinen Beine zeigten starr nach oben. Ciel schloss die Augen, konzentrierte sich und spürte, wie ihre Hände warm wurden, als würde sie einen Becher heißen Tee halten.
Als sie die Augen wieder öffnete, war der Vogel lebendig, hüpfte laut zwitschernd auf ihrer Hand, als wollte er sich bedanken, ehe er die Flügel ausbreitete und davonflog.
Ciel lächelte glücklich und blickte ihm nach. »Alles Gute, kleiner Vogel«, flüsterte sie und ging zurück zu ihrem Hund, der brav auf der Bank saß und auf sie wartete. Toivo sprang ihr auf den Schoß, kaum dass sie sich setzte. Sie streichelte ihn, während sie gedankenverloren sagte: »Ist es sehr komisch, Toivo, dass ich Tiere heilen und sie ins Leben zurückholen kann? Ich weiß auch nicht, warum ich das kann.«
Es war ihr größtes Geheimnis. Sie hatte nie jemandem von ihren Fähigkeiten erzählt. Wem auch?
Außerdem würde ihr niemand glauben.
»Ob das auch bei Menschen funktioniert?« Sie zuckte die Achseln und seufzte. »Jedes Mal fürchte ich mich dabei vor mir selbst.« Sie blickte hinüber zu einem Auto, auf dessen glänzendem Lack sich ihr Gesicht spiegelte. »Wer oder was bin ich?«
Toivo wedelte mit dem Schwanz und bellte, ehe er ihr erneut mit der feuchten Zunge über die Wange fuhr, als würde er ihren Kummer spüren und wollte sie trösten.
Ciel lachte. »Mein lieber, süßer Toivo, du darfst mich niemals verlassen, versprich mir das, ja?«
Sie saß noch lange auf der Bank, beobachtete die vielen Leute, die den Supermarkt besuchten – junge und alte, Familien, Jugendliche, Kinder. Menschen, die normal waren und einfach ihr Leben lebten. Wie gerne sie mit ihnen tauschen wollte!
Irgendwann schlief Ciel vor lauter Erschöpfung ein. Als sie nach einiger Zeit wieder aufwachte, war der Himmel in ein orangefarbenes Licht getaucht. Die Sonne ging bereits unter. Vögel zwitscherten in den Bäumen und sangen ihre Abendlieder.
Sie gähnte, rieb sich die Augen und blickte Toivo entschuldigend an, der vor ihr auf dem Boden saß und mit seinen großen Hundeaugen zu ihr hochblickte.
»Wie spät ist es? Ich muss wohl eingeschlafen sein.«
Nachdem sie in letzter Zeit von morgens bis abends schwer arbeitete, wunderte es sie nicht, wenn sie am Tag so viele Stunden schlafend verbrachte.
Sie setzte sich auf und streckte sich. Ihre Glieder waren bleischwer, ihr Körper ganz steif, ihr tat der Nacken weh und ihr Magen knurrte schon wieder. Ihr Blick fiel auf den Supermarkt. Auf dem Parkplatz war es bereits menschenleer und sie sah, wie die Mitarbeiter Schilder hineintrugen und sich auf den Feierabend vorbereiteten, also musste es bereits achtzehn Uhr sein, denn da schloss der Laden.
»Oje, in einer Stunde muss ich zur Arbeit. Ich darf bloß nicht zu spät kommen, sonst bekomme ich Ärger vom Chef. Gehen wir besser, Toivo!« Sie erhob sich und schnappte sich die Leine. Toivo bellte und wedelte erfreut mit dem Schwanz, als sie einen letzten Blick zum Supermarkt warf.
In diesem Moment stürmte ein Verkäufer aufgebracht aus dem Laden und blickte sich mit geballten Fäusten hektisch um. »Halt sie fest! Sie hat uns bestohlen!«, schrie er quer über den menschenleeren Parkplatz.
Ciel brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass sie gemeint war. Nur einen Augenaufschlag später sah sie, wie eine ganz in Schwarz gekleidete Person direkt auf sie zustürmte. Sie konnte vom Körperbau her nicht männlich sein, das bemerkte Ciel sofort. Die weibliche Person, die höchstens so groß war wie sie selbst, trug einen Beutel im Arm, in dem sich wohl das Gestohlene befand. Außerdem hatte sie sich die Kapuze ihrer schwarzen Jacke tief ins Gesicht gezogen, um unerkannt zu bleiben.
Ciel handelte, ohne nachzudenken. Sie rannte los, um die Diebin festzuhalten. Auch wenn sie vielleicht arm war, so wie Ciel, gab es ihr noch lange nicht das Recht, Supermärkte auszurauben. Es gab andere Wege, um seine Armut in den Griff zu bekommen.
Sie stürmten nun beide direkt aufeinander zu. »Halt!«, schrie Ciel, machte einen Satz nach vorn und packte die Diebin am Arm – doch die war stärker, als sie ausschaute. Sie riss sich von Ciel los und warf sie dabei zu Boden.
Als Ciel aufsah, bemerkte sie, wie Toivo auf die dunkel gekleidete Person zusprang und sich in ihrem Hosenbein festbiss, wodurch die Diebin ins Stolpern geriet.
»Gut gemacht, Toivo!«, rief Ciel und rappelte sich auf. Sofort sprang sie auf die Fremde zu und warf sich auf sie, um sie an einer weiteren Flucht zu hindern. Sie schrien beide gleichzeitig auf, als sie auf das Pflaster des Parkplatzes fielen. Ciel war sofort wieder auf den Beinen, setzte sich rittlings auf den Bauch der Diebin, um sie am Boden zu halten, doch die wehrte sich gar nicht. Nicht einmal als Ciel ihr den Beutel aus den Händen riss.
Das war seltsam. Diebe würden ihre kostbare Beute doch niemals so leicht wieder hergeben, vor allem dann nicht, wenn ein Mädchen es mit ihnen aufnahm, das schwach und zerbrechlich war und nicht mal fünfzig Kilo wog.
»Man bestiehlt niemanden!«, schimpfte Ciel und riss dem Mädchen die Kapuze vom Kopf.
Doch was sie sah, ließ ihr Herz erstarren und das Blut in ihren Adern gefrieren. Ihre Lunge zog sich zusammen, und ihr wurde übel. Ungläubig weiteten sich ihre Augen. Selbst die Zeit schien stehenzubleiben, denn Ciel blickte in ihr eigenes Gesicht.
»Aber … was … wer …«, stammelte sie. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Es war unmöglich! Das konnte einfach nicht wahr sein!
Aber dieses Mädchen, die Diebin in Schwarz, sah genauso aus wie sie selbst. Das gleiche hüftlange blonde Haar und das gleiche schmale Gesicht. Die abgemagerte Statur, die blasse Haut. Einzig ihre Augen unterschieden sich. Während Ciel smaragdgrüne Augen hatte, waren die des anderen Mädchens kristallblau.
Es war, als sähe Ciel ihr eigenes Spiegelbild. Sie hätten glatt Zwillinge sein können!
Ciel schüttelte fassungslos den Kopf. »N-nein, das kann nicht …« Tränen brannten in ihren Augen, aufgewühlt von den plötzlich in ihrem Herzen einschlagenden Gefühlen.
Ihr