»Denkst du ernsthaft, ich würde dich hierher bestellen, um dich anzulügen? Dafür ist mir meine Zeit zu kostbar.« Oscuro blickte auf seine Hand hinab, ballte sie zu einer Faust und öffnete sie wieder. »Ich habe sie gesehen. Allerdings nur eine der beiden. Jene des Lichts. Sie ist hier in der Stadt. Habe sie in der Nähe des Supermarkts gesehen. Ich warte noch auf eine günstige Gelegenheit, um sie anzusprechen. Sie trägt immerhin ungeahnte, mächtige Kräfte in sich. Ich muss vorsichtig sein. Sie könnte, ohne mit der Wimper zu zucken, mein Leben beenden.« Sein Blick streifte Lucien kurz, ehe er wieder nach unten starrte und mit seinen Kampfstiefeln einen weiteren Stein wegkickte. »Aber sie sah so erbärmlich aus, als ob sie tatsächlich nur ein schwacher Mensch ist. Merkwürdig. Hatte sie mir anders vorgestellt. Stärker. Weniger zerbrechlich.«
»Und was ist mit der, die zur Finsternis gehört?«
»Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen, du Idiot«, brummte Oscuro genervt und zuckte die Achseln. »Hab sie nicht gesehen. Sie kann hier und dort und überall sein, wer weiß das schon.«
»Aber man braucht beide, damit …«
Oscuro brachte ihn mit einer unwirschen Handbewegung zum Schweigen. »Ja, ja, ich weiß! Einzeln bringen sie uns nicht viel, aber die Zwillinge zusammen öffnen uns die Pforten zu einer Macht, die uns unbesiegbar macht.«
Lucien seufzte. »Du weißt, wie schwer es ist, sie zu erwecken. Selbst wenn wir sie tatsächlich finden sollten, die Mädchen sind tickende Zeitbomben. Sobald sie sich begegnen, werden sie …« Er schüttelte den Kopf.
»Jetzt halt mal die Luft an, Lucien. Damit das nicht passiert, dafür sind wir ja da.« Oscuro grinste. »Bist du dir ihrer Macht eigentlich bewusst oder was wir mit ihr alles erreichen können? Ist dir denn gar nicht klar, dass die Königin uns bloß ausnutzt? Wir erledigen die Drecksarbeit, während sie am Ende mit der Macht der Engelszwillinge praktisch alles erreichen könnte? Sie könnte über die Menschenwelt herrschen und uns dann wie Abfall beseitigen. Schon mal daran gedacht?«
»Was redest du da für einen Quatsch? Wir haben die Mission begonnen, wir werden sie auch beenden«, entgegnete Lucien. »Wenn du noch mehr solchen Unsinn redest, wird die Königin dich bestrafen. Ich kann das nicht zulassen. Nimm Vernunft an, und lass uns endlich vernünftig zusammenarbeiten, wie wir es schon die ganze Zeit hätten tun sollen.«
Oscuros Augen wurden schmal. »Du begreifst es einfach nicht, oder? Zusammen mit diesen beiden Mädchen liegt uns die Welt zu Füßen! Wäre es nicht schön, wenn die Menschen endlich ausgelöscht würden?«
»Was sagst du da?«
Oscuro lachte. »Guck nicht so entsetzt! Ich meine, stell dir nur mal vor, wie es wäre, wenn die Menschen aufhörten zu existieren. Erbärmliche Versager, die sich für die Größten halten, würden einfach vernichtet. Man benötigt dazu nur die Hilfe der Engelszwillinge – und schon kann man über die Welt herrschen wie ein König, ohne die dummen Menschen.«
»Das wagst du nicht!« Luciens Hände schossen vor und packten Oscuro am Kragen. »Wir nutzen die beiden Mädchen nicht für so einen Schwachsinn aus! Die Königin würde das nicht tolerieren. Die Menschen bleiben am Leben. Wir werden mit der Hilfe der Engelszwillinge die Welt der Menschen verbessern. Wir werden den Hass, den Zorn und all die negativen Gedanken aus den Köpfen der Menschen verbannen. Nur so kann Frieden einkehren. Und deshalb sind wir hier. So lauten die Befehle unserer Königin. Hast du das vergessen?« Verzweiflung glitzerte in seinen Augen. Er konnte nicht glauben, was er aus dem Mund dieses Typen zu hören bekam. War das überhaupt noch der Oscuro, den er mal gekannt hatte, oder jemand ganz anderes?
Oscuros Augen wurden schmal. Härte trat auf sein schönes Gesicht. »Ich hätte dich für ein bisschen kooperativer gehalten, Lucien. Ich bin eigentlich hier, da ich es mir anders überlegt habe und dachte, wir könnten es vielleicht gemeinsam schaffen, nun, da endlich Zwilling Nummer eins aufgetaucht ist. Wir könnten die Mädchen gemeinsam erwecken und ihre ungeheure Macht für uns beide nutzen. Ich hätte die verdammte Mission ja gerne allein bewältigt, aber nein, die Königin meint, es ist nur zu zweit zu schaffen und stellt mir so einen Nichtsnutz wie dich an die Seite.«
Lucien erhöhte den Druck, mit dem er immer noch Oscuros Kragen gepackt hielt, und öffnete den Mund.
Doch sein ehemaliger Freund schlug seine Hände weg und fuhr fort: »Außerdem sind mir die Befehle der Königin scheißegal. Für so einen Schwachsinn werde ich die ungeheure Macht der Engelszwillinge nicht verschwenden. Wenn mir in den vielen Jahrzehnten in der Menschenwelt etwas klar geworden ist, dann das. Alles, was wir tun müssen, ist, darauf aufzupassen, dass keines der beiden Mädchen stirbt, ehe ihr wahres Wesen erwacht ist. Ich habe keine Lust, weitere fünfzig Jahre auf ihre Rückkehr zu warten und wieder Jahrzehnte nach ihnen zu suchen. Ist dir wirklich nicht klar, was wir mit ihrer Macht alles erreichen könnten?«
Lucien schüttelte den Kopf. »Die Königin hat uns einen Befehl gegeben, den wir ausführen werden. Der Hass in den Herzen der Menschen wird immer mächtiger! Irgendwann entstehen aus den negativen Gefühlen Dämonen, die eine ernsthafte Bedrohung für sie und uns darstellen. Wir müssen das verhindern, und nur die Engelszwillinge können uns dabei helfen. Also sei kein Dummkopf!«
»Sollen die Menschen sich doch gegenseitig ausrotten.«
Lucien spürte, wie ungeheure Wut in ihm hochstieg. Ehe er sich versah, hatte er mit der Faust ausgeholt, um Oscuro eine zu verpassen, doch Oscuro war schneller. Er packte Lucien am Halsausschnitt seiner weißen Kapuzenjacke und stieß ihn zu Boden. Lucien keuchte, als er rücklings auf die harte Erde fiel. Er stützte sich mit beiden Händen vom Boden ab und blickte empor.
»Wage es nicht, mich aufzuhalten, Lucien!« Oscuro sah ihn mit blitzenden Augen an. »Da draußen gibt es so viele Menschen, die den Tod verdienen.« Er grinste teuflisch, dann trat er einen Schritt zurück. »Ich werde mir jetzt den Zwilling des Lichts schnappen. Sobald ich ihn habe, wird mir jener der Finsternis folgen. Die beiden ziehen sich schließlich an wie Magnete. Lebwohl.« Mit diesen Worten drehte er sich um, und Lucien konnte nur noch seinen Rücken sehen, der sich mit jedem Schritt immer weiter von ihm entfernte und eins mit der Finsternis wurde.
»Hör auf damit! Das schaffst du nicht! Sie bringen dich um, noch bevor du in ihre Nähe kommst!«, brüllte er ihm nach, doch Oscuro war bereits in der Dunkelheit des Waldes verschwunden.
Lucien konnte sich nicht mehr bremsen. Zorn benebelte seine Sinne, und seine Flügel, der eine glänzend schwarz, der andere in einem strahlenden Weiß, brachen aus seinen Schulterblättern hervor, zerrissen seine Kapuzenjacke und breiteten sich zu beiden Seiten aus. Vereinzelte Federn wurden vom Wind davongetragen. Doch Lucien unterdrückte den überwältigenden Drang, Oscuro hinterherzufliegen und ihn zu verprügeln. Es würde nichts nützen, wenn sie wie von Sinnen aufeinander einschlugen, denn sich gegenseitig töten konnten sie ja nicht, dafür hatte die Königin gesorgt. Selbst wenn sie sich bekämpften, sich gegenseitig grün und blau schlugen, sämtliche Knochen brachen und jede noch so lebensgefährliche Verletzung zufügten, würde jede davon nach kurzer Zeit wieder verheilen.
Davon abgesehen war Streit das Letzte, was Lucien jetzt gebrauchen konnte. Oscuro konnte nicht so dumm sein und tatsächlich glauben, damit durchzukommen. Warum tat er das? Was sollten diese Alleingänge? Warum ließ er Lucien im Stich? Waren die Mächte der Engelszwillinge das alles wert? Er würde sich nur sein eigenes Grab schaufeln. Außerdem würde die Königin ihn vernichten, sollte sie von seinen egoistischen Plänen erfahren. Und Lucien wollte nicht, dass man ihm etwas antat. Er war sein einziger und bester Freund, der auf einem finsteren Pfad wandelte, aber Lucien würde alles tut, um ihn wieder ins Licht zurückzuholen. Auch wenn er Oscuro nichts mehr zu bedeuten schien und der ihn offenbar lieber tot als lebendig sehen wollte – für Lucien blieb er sein Freund, der sich unwissend in große Gefahr begab.
Luciens aufkommender Zorn wandelte sich in Trauer. Er bohrte seine Finger in die Erde und stieß einen erschöpften Laut aus. Das Brennen in seinen Flügeln verschlimmerte seine seelischen Schmerzen nur noch