Engelszwillinge. Laura Wille. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Laura Wille
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783964640512
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frühen Morgenstunden auch diesmal allein, und so gab es niemanden, der Zeuge ihrer Standpauke wurde. Er schrie sie an, so laut, dass sie sich die Ohren zuhielt und weit weg von diesem Ort wünschte. Nachdem er sie zehn Minuten lang angebrüllt, mit Spucke besprüht, ihr drei Mal einen schmierigen Lappen ins Gesicht geworfen und ihr immer wieder die gleichen Sätze gesagt hatte – »Du undankbares Ding! Du darfst kostenlos in meiner Wohnung wohnen und bekommst Essen und Trinken. Niemand sonst wird dich so gütig behandeln wie ich. Wenn du diesen Job verlierst, schläfst du endgültig auf der Straße und kannst dich gleich ertränken!« – schickte er sie los, um beim Obst- und Gemüseladen Lebensmittel zu besorgen. Die meisten Vorräte waren nämlich längst aufgebraucht.

      »Wenn du in fünfzehn Minuten nicht mit den Einkäufen zurück bist, bekommst den ganzen Tag nichts zu essen!«, brüllte er ihr noch hinterher, bevor Ciel rasch den Laden verließ und die Straße entlanghastete. Sie hatte noch nicht einmal Toivo begrüßt und ihn auf den Arm genommen, wie sie es sonst jeden Morgen tat. Ihn zu knuddeln ließ sie immer für einen Moment all die Sorgen vergessen, ehe sie in einen furchtbaren Tag startete. Eigentlich war jeder Tag in ihrem Leben furchtbar, doch das machte ihr nichts aus. Sie lächelte, dachte an ihren Hund und die schönen Dinge im Leben, und ihre Sorgen verflogen. Sie wunderte sich manchmal selbst über ihre ruhige und besonnene Art. Darüber, wie locker sie alles über sich ergehen ließ, obwohl ihr Leben wirklich hart war.

      Sie wollte keinen Ärger, deshalb beeilte sie sich, um schnell die Lebensmittel einzukaufen, die ihr Chef ihr aufgetragen hatte zu besorgen. Sie ging schnellen Schrittes die Straße entlang. Zu dieser Zeit waren nur wenige Menschen unterwegs, und viele Geschäfte hatten noch geschlossen.

      Sie lief durch eine schmale, menschenleere Gasse und wollte gerade nach links abbiegen, als sie mit etwas Großem und Schwarzem zusammenprallte. Sie erschrak, taumelte zurück, doch ehe sie stolpern und hinfallen konnte, packte eine kräftige Hand ihr Handgelenk und hielt sie fest.

      »Vorsicht, junge Dame!«

      Ciel fuhr zusammen. »Entschuldigung, ich …«, stammelte sie und blickte auf.

      Ein gut aussehender Junge, nicht älter als sie, stand vor ihr und lächelte sie freundlich an. Er hatte strahlend blaue Augen und unordentliche, leicht zerzauste pechschwarze Haare, war groß und muskulös und trug ein schwarzes enges T-Shirt, unter dem sich deutlich seine Bauchmuskeln abzeichneten.

      Ciel starrte ihn an und ertappte sich selbst dabei, wie sie rot wurde. Sie konnte den Blick einfach nicht von seinen eisblauen Augen abwenden, die die ihren gefangen hielten. So ein intensives, leuchtendes Eisblau hatte sie noch nie gesehen. Selbst in ihren kühnsten Träumen hätte sie solch eine intensive Augenfarbe nie für möglich gehalten. Als wären seine Augen aus dem Ozean gemacht.

      »Warum so eilig?«, fragte er, während er sie mit hochgezogenen Augenbrauen musterte.

      »Ich … ich muss einkaufen.« Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Wieso redete sie mit einem Unbekannten über Dinge, die ihn nichts angingen? Außerdem lief ihr wirklich die Zeit davon.

      »Bitte entschuldige.« Damit ging sie schnell an ihm vorbei. Doch seine Stimme, die plötzlich so kalt wie Eis war und ihr einen Schauer über den Rücken jagte, ließ sie erstarren.

      »Lässt du dich wieder von deinem furchtbaren Chef herumkommandieren? Du hast Angst vor ihm, stimmt’s? Oder lässt du all das Leid über dich ergehen, weil das Licht in dir so hell leuchtet, dass es jede noch so bösartige Finsternis vertreibt? Wäre dein Licht nicht so stark, hättest du längst aufgegeben.«

      Ciel wirbelte herum. »Was hast du da gerade gesagt?«

      Der Junge lächelte ein merkwürdiges Lächeln, als würde er sie bemitleiden und für sehr dumm halten, dann stellte er sich ihr in den Weg.

      »Verzeih, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Oscuro.«

      Er streckte ihr förmlich die Hand entgegen.

      Ciel starrte sie an, und ehe sie imstande war zu begreifen, was sie tat, ergriff sie sie. Seine Hand fühlte sich angenehm warm an. Sie konnte nicht anders und schloss die Augen, als sie spürte, wie wohltuende Wärme durch ihren Körper strömte und all ihre negativen Gefühle und Gedanken mit einem Mal verschwanden. Für einen flüchtigen Moment vergaß sie sogar, dass sie doch die Lebensmittel für ihren Chef besorgen musste. Auch die Erinnerung daran, dass der sie angebrüllt und beschimpft hatte, war mit einem Mal total unwichtig geworden.

      Wie konnte eine einzige Berührung dieses schwarzhaarigen Jungen das in ihr auslösen?

      Sie öffnete die Augen, schaute ihn an und wollte etwas sagen, doch so weit kam sie nicht, denn Oscuro stieß ein leises Lachen aus und sagte: »Du vertraust aber schnell Leuten, die du gar nicht kennst. Scheint wohl ein Hobby von dir zu sein, nicht wahr? Wenn dem nicht so wäre, hättest du dich gewehrt und geweigert, mit ihm mitzugehen«, fügte er mit einem kryptischen Lächeln auf den Lippen hinzu.

      Ciel zuckte zusammen und zog ihre Hand zurück. Sie spürte, wie die Wärme wich und ihr stattdessen eisige Kälte bis ins Mark kroch. Woher wusste er von dem blonden Jungen, der ihr gestern begegnet war?

      »Nein, er hat mich entführt«, protestierte sie. »Ich meine, woher weißt du das? Hast du uns beobachtet?«

      »Ich kenne Lucien gut.« Oscuros eisblaue Augen glühten vor Zorn, zumindest kam es Ciel so vor. Doch als er sie kurz schloss und wieder öffnete, strahlten sie wieder gleichmütig hell und klar wie ein wolkenloser Himmel.

      Ciel blinzelte verblüfft. Lucien? War das der Name des merkwürdigen Jungen, der sie k.o. geschlagen hatte? Aber war es wirklich eine Entführung gewesen? Oder hatte dieser Lucien sie nur beschützt und in Sicherheit gebracht, wie er behauptete? Sie war verwirrt.

      Oscuros Stimme war ein leises Flüstern, als er sich zu ihr beugte und seine Augen ihre wie unter Hypnose gefangen hielten.

      »Das Licht ist schwach. Es sollte sich wehren. Wenn es sich nicht wehrt, wird es eines Tages erlöschen. Ich meine, du kennst das doch, oder? Dieses erdrückende Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Du warst so verzweifelt und spürtest eine Angst, die du noch nie zuvor in dir gespürt hast. Deine Gefühle sind vollkommen außer Kontrolle geraten.« Unvermittelt zuckte der Junge die Achseln und blickte sie grinsend an. »Tja, so schnell wird da wohl kein neuer Supermarkt mehr gebaut.«

      Ciel riss entsetzt die Augen auf.

      Oscuro hüstelte in seine Faust hinein und fügte mit erhobenem Zeigefinger hinzu: »Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Dein Chef ist ein ganz gemeiner Typ. Wenn du weiterhin bei ihm bleibst und die Gutmütige spielst, zerbrichst du daran und das könnte … fatale Folgen haben.«

      Er strich mit dem Finger über ihren Hals bis hinunter zum Schlüsselbein. Seine Berührungen waren warm und lösten eine Gänsehaut bei ihr aus.

      Dicht an ihrem Ohr flüsterte er: »Weißt du, in jedem von uns stecken Kräfte, außerordentliche Kräfte, die uns selbst nicht bewusst sind. Lucien hat das gespürt, deshalb hat er dich vor einer Katastrophe bewahrt. Du bist zu wichtig, als dass du schon wieder …«

      »Was willst du damit sagen? Dass ich schwach und zerbrechlich bin? Das bin ich nicht, okay? Auch wenn mein Leben nicht sonderlich gut läuft. Und jetzt … hör auf, so komisches Zeug zu reden.« Ciel wich einen Schritt zurück.

      Oscuro zog ungläubig die Augenbrauen hoch, schwieg jedoch.

      Sie rieb sich die pochenden Schläfen, als sie sich erneut an den blonden Jungen erinnerte. »Dieser merkwürdige Junge von gestern, Lucien, wusste auch eine Menge über mich, so wie du.«

      Oscuro stand stocksteif da, und sein Gesicht zeigte keine Regung, doch seine eisblauen Augen verengten sich.

      »Hör zu, ich möchte von alldem wirklich nichts mehr wissen. Es macht mir Angst, okay?« Ciel schüttelte heftig den Kopf. »Außerdem muss ich mich beeilen und die Lebensmittel besorgen, sonst bekomme ich wieder Ärger.«

      Noch bevor der unheimliche Oscuro weitere gruselige Dinge sagen konnte, schob sie sich an ihm vorbei. Während sie schnellen Schrittes weiterlief, spürte