Tränen brannten in seinen Augen, die er verzweifelt niederzukämpfen versuchte.
Kapitel 1
Das Mädchen in Schwarz
Ciel wurde wach, als ihr Wecker klingelte.
Sie schaltete ihn aus, seufzte tief, setzte sich auf ihrer schäbigen Matratze auf dem Fußboden auf und blickte sich in ihrem ebenso schäbigen kleinen Zimmer um. Da war ein großer Wasserfleck an der Wand, die Tapete schälte sich an manchen Stellen bereits ab. Und sie fror bis auf die Knochen, denn sie hatte nur eine dünne Decke über sich ausgebreitet. Ihre Heizung funktionierte nicht mehr, und ihr Chef hatte ihr erklärt, sie erst dann reparieren zu lassen, wenn Ciel alle ihre Aufgaben erledigt hatte – allerdings war diese Zusage nun auch schon seit Wochen überfällig.
Ciel wohnte in einer winzigen Einzimmerwohnung und arbeitete als Kellnerin in einer kleinen Pizzeria, deren unfreundlicher Chef Henry sie tagtäglich anbrüllte. Es gefiel ihr nicht, dass der Chef so gemein zu ihr war, aber sie brauchte diesen Job.
Merkwürdigerweise war er nur zu ihr so fies, denn täglich riefen unzählige seiner Freunde an, und auch seine Kunden schätzten seine Freundlichkeit sehr. Ciel wusste nicht, warum er sie so hasste. Vermutlich bereute er einfach, damals eine Waise ohne Erinnerungen an ihre Vergangenheit aufgenommen zu haben und sich nun um sie kümmern zu müssen.
Auch die Wohnung gehörte ihm, und solange sie bei ihm arbeitete, durfte sie dort schlafen. So schäbig und ranzig die Unterkunft auch sein mochte, alles war besser, als auf der Straße oder in einem Heim zu leben.
Ciel konnte sich nicht an ihre Eltern erinnern. Weder an ihre Gesichter noch an ihre Namen, geschweige denn an ein Zuhause. Sie hatte keinerlei Erinnerungen an ihr früheres Leben vor dem trostlosen Waisenheim, in dem sie bis zu ihrem zehnten Lebensjahr gelebt hatte.
Mit zehn war sie dann in eine Pflegefamilie gekommen. Doch bei ihrer neuen Familie war es ihr auch nicht besser ergangen. Ihre Pflegemutter war früh gestorben, und ihr Pflegevater hatte daraufhin angefangen zu trinken. Bald schon war er aggressiv und gewalttätig geworden. Er hatte Ciel geschlagen, wann immer sie es gewagt hatte, den Mund aufzumachen. Irgendwann hatte sie keinen anderen Ausweg gesehen, als davonzulaufen. Einige Monate hatte sie auf der Straße verbracht, bis ihr Chef, Henry, sie gefunden und bei sich aufgenommen hatte. Er hatte versprochen, sich um sie zu kümmern, solange sie für ihn arbeitete, und so war ihr schreckliches Leben weitergegangen.
Als sie damals zu Henry gekommen war, hatte er sie natürlich über ihre Vergangenheit ausgefragt. »Wo kommst du eigentlich her? Was ist mit deinen Eltern passiert? Wieso hast du nicht einen einzigen Verwandten?«
Ciel hätte ihm so gerne Antworten gegeben, doch sie wusste gar nichts. Nichts über ihre Eltern, woher sie kam oder wann sie Geburtstag hatte. Gar nichts. Da war nur Leere in ihrem Kopf. Manchmal fragte sie sich, ob sie in der Vergangenheit vielleicht einen furchtbaren Unfall gehabt und deshalb ihr Gedächtnis verloren hatte. Es war zum Verrücktwerden – je mehr Ciel nachdachte und sich zu erinnern versuchte, desto schlimmer wurden jedes Mal ihre Kopfschmerzen. Einmal waren sie sogar so heftig gewesen, dass sie zusammengebrochen war.
Da war nichts als Nebel. Es kam ihr vor, als wollte ihre Vergangenheit nicht gelüftet werden, unter gar keinen Umständen. Oder als wäre da irgendjemand oder irgendetwas, das sie zu einem Leben voller Leid verdammte, an dem sie irgendwann zerbrechen würde. Ihr Chef hatte sie jedenfalls schon als psychisch krank abgestempelt. Ciel hoffte innigst, dass das nicht wahr war.
Gähnend stand sie auf, um sich an dem kleinen Waschbecken zu waschen. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, putzte sich die Zähne und warf dann einen Blick in den zersprungenen Spiegel. Ihr blondes, hüftlanges Haar war zerzaust, matt und glanzlos, trotzdem strahlten ihre smaragdgrünen Augen Wärme aus. Ihr Gesicht war schmal, die Haut sehr blass. Genauso blass wie der Rest ihres mageren Körpers.
Schnell schlüpfte sie in ihre Jeans, zog sich ein hellblaues T-Shirt an und darüber eine weiße Strickjacke. Ihr Magen knurrte, doch es gab in der ganzen Wohnung nichts zu essen.
Heute würde sie erst abends arbeiten müssen. Ein langer, einsamer Tag erwartete sie, der nur durch ihren einzigen tierischen besten Freund erträglich wurde. Menschliche Freunde besaß sie keine. Niemand interessierte sich für sie oder wollte etwas mit ihr zu tun haben. Ciel hatte sogar einmal mitbekommen, wie ihr Chef einer Gruppe von Mädchen erzählte, Ciel verdiene keine Freunde, und sie sollten sich alle von ihr fernhalten. Als sie versucht hatte, ihn darauf anzusprechen, hatte er sie nur zu noch mehr Arbeit verdonnert.
Henry kümmerte sich ohne jegliche Zuneigung um sie, seine Bedingungen waren hart und die Regeln streng. Trotzdem war er die einzige Sicherheit, die sie hatte. Darum blieb sie bei ihm. Und so sehr Ciel auch wollte, sie konnte ihren Chef nicht hassen. Jemanden zu hassen oder auch nur lange wütend zu sein, lag nicht in ihrem Wesen. Es gab Tage, da fürchtete sie sich sogar selbst vor ihrem extrem gütigen Charakter.
Doch ihr einziger Freund Toivo, ein kleiner Labradorwelpe, liebte sie. Er war ihr zugelaufen, ohne Halsband oder einen Hinweis auf seinen Besitzer. Kurzerhand hatte Ciel beschlossen, ihn Toivo zu nennen und bei sich aufzunehmen.
Henry war keineswegs begeistert, dass sie einen Hundewelpen anschleppte, erlaubte ihr aber gnädigerweise, ihn zu behalten. Falls er aber Ärger machte, würde ihr Chef sie allerdings zwingen, Toivo in ein Tierheim zu stecken, damit hatte er schon gedroht.
In die Wohnung durfte er auch nicht, sondern musste draußen in der kleinen Gasse vor ihrem Fenster schlafen, egal bei welchem Wetter. Es schmerzte sie, ihren geliebten Hund leiden zu sehen, doch sie versuchte ihr Bestes, um ihm trotzdem ein schönes Leben zu ermöglichen.
Sie öffnete die Haustür. An der Klinke war eine Plastiktüte befestigt, samt einer Notiz in kaum leserlicher Schrift von ihrem Chef:
Hier hast Du etwas Futter für Deinen Hund. Für Dich habe ich auch etwas eingepackt. Sobald Du nachher zu mir in den Laden kommst, bekommst Du eine bessere Mahlzeit.
Und wage es bloß nicht, zu spät zu kommen!!!!!!
Sie seufzte, aber es war besser als nichts.
Der Lohn, den sie von Henry bekam, war gering, und so konnte sie sich nicht viel leisten. Schon gar keine Schul- oder Ausbildung. Neben ihrem Job hätte sie das sowieso nicht geschafft, dazu war sie tagsüber immer viel zu müde.
Sie verließ mit der Plastiktüte ihre Wohnung und schloss die Tür hinter sich ab.
Draußen war es ein wenig bewölkt und windig. Der Himmel trug eine graue Farbe, und die Sonnenstrahlen brachen kaum durch die Trübheit des Tages hindurch.
Sie holte Toivo, der vor Aufregung laut zu bellen begann, von seinem Schlafplatz ab, nahm ihn an die Leine und machte sich auf den Weg zu ihrem Lieblingsplatz. Das war eine Bank gegenüber eines Supermarktes, von wo aus sie immer die Leute beobachtete, die den Laden betraten und verließen. Es war keine besonders tolle Freizeitbeschäftigung, aber für etwas anderes hatte sie kein Geld. Außerdem war sie so an der frischen Luft, konnte mit Toivo zusammen sein und fühlte sich nicht ganz so einsam.
Unterwegs hielt sie an einem Kiosk an. Die Titelseite der Zeitung zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.
ERNEUT SUCHEN DUTZENDE MYSTERIÖSE TODESFÄLLE UNSERE STADT HEIM – OPFER BRECHEN EINFACH ZUSAMMEN. TODESURSACHEN NOCH UNKLAR.
POLIZEI STEHT VOR EINEM RÄTSEL UND RÄT DEN EINWOHNERN, VORSICHTIG ZU SEIN UND VERDÄCHTIGES SOFORT ZU MELDEN.
Ciel bekam mit, wie ein Passant die Zeitung aufklappte und kopfschüttelnd zu dem Kioskbesitzer sagte: »Schlimm sowas. Nicht mal hier ist man noch sicher. Es geht das Gerücht um, dass jedes Mal ein Mädchen in Schwarz am Tatort gesehen worden sein soll. Dabei kann sie unmöglich etwas damit zu tun haben. Immerhin sind die Opfer von ganz allein tot umgefallen.«
»Sehr mysteriös das Ganze«, murmelte