Ciel saß noch immer rittlings auf ihr und hielt sie mit ihrem Gewicht am Boden, was jedoch völlig unnötig war, denn ihre Doppelgängerin schien zu Stein erstarrt. Ciel war so durcheinander, dass sie vergessen hatte, weshalb sie das eigentlich tat, geschweige denn was hier vor sich ging. Selbst Toivo, der noch immer vergeblich am Hosenbein des Mädchens zog, nahm sie kaum wahr. Ihre Welt begann sich zu drehen. Das Schwindelgefühl überwältige sie mit solcher Macht, dass sie sich beide Hände an den Kopf presste und einen erstickten Schrei ausstieß.
Einen Moment lang sahen sich die beiden Mädchen wieder an, ohne ein Wort zu sagen. Plötzlich glitzerten auch in den Augen der Unbekannten Tränen. Ihr blasser Mund öffnete sich, doch sie blieb stumm.
»Wer bist du?«, hauchte Ciel.
Wieso siehst du genauso aus wie ich?
Wieder öffnete das Mädchen den Mund. Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange – dann gab es einen fürchterlichen, ohrenbetäubenden Knall am Himmel, der sich schlagartig und binnen Sekunden pechschwarz färbte.
Ciel schrie auf, kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu, während ein eiskalter Wind über sie hinweg heulte und sie erschaudern ließ. Ihre Haare peitschten ihr ins Gesicht, während die Temperaturen rasant sanken. Weit in den Minusbereich, denn Eiskristalle bildeten sich urplötzlich auf dem Beton und auf Ciels Kleidung. Sie keuchte panisch, zitterte vor Kälte und blies eine Atemwolke aus.
Schwarze Wolken türmten sich auf und verschluckten jeden Lichtstrahl. Mit einem Mal war alles stockdunkel.
Zu Ciels Erleichterung gingen in diesem Moment die Straßenlaternen an und sie sah den Verkäufer auf sie zurennen.
»Was ist hier los?« Der junge Mann mit schwarzen zurückgegelten Haaren, braunen Augen und großer Nase, blieb schwer atmend vor ihnen stehen. Erschrocken blickte er sich um, sah ängstlich zu der sich auftürmenden Finsternis, die sich überall um sie herum noch immer wie Nebel ausbreitete. Als ein weiterer lauter Knall am Himmel dröhnte, zuckte er zusammen. Erschrocken richtete er den Blick nach oben und murmelte unverständliche Worte vor sich hin.
Das muss ein böser Traum sein. Nur ein böser Traum!, redete sich Ciel panisch ein, während sie sich mit zusammengekniffenen Augen die Ohren zuhielt.
»Was zum …?«, murmelte der Verkäufer nervös, aber als sein Blick wieder auf Ciel und dann auf das Gesicht des fremden Mädchens fiel, verzerrte sich seine Miene zu einer wütenden Grimasse. »Ihr beiden steckt also unter einer Decke?«
»Was? Nein, ich …«, stammelte Ciel.
Doch in diesem Moment zog sich ihre Doppelgängerin die Kapuze wieder tief ins Gesicht, schob sich unter Ciel hervor und rannte davon – ohne Beute und ohne sich noch einmal umzudrehen.
Mit ihrem Verschwinden lösten sich der schwarze Nebel und auch die dunklen Wolken am Himmel auf, verschwanden so schnell, wie sie erschienen waren. Als hätte man mit der Hand über den Himmel gewischt und die Finsternis einfach weggezaubert. Auch die eisige Kälte wich – und wie bei einem sich öffnenden Vorhang kam der abendrot gefärbte Himmel wieder zum Vorschein.
Ciel hatte keine Erklärung dafür, was da gerade geschehen war. Ihr Blick fiel auf den Beutel, den sie noch in der Hand hielt. Neugierig öffnete sie ihn, um zu sehen, was die Diebin gestohlen hatte. Zu ihrer Überraschung befanden sich weder Alkohol, noch teure Zigaretten oder Geld darin, sondern ganz normale Lebensmittel. Ein halbes Brot, zwei Äpfel und eine Wasserflasche.
Sie hob den Kopf und schaute in die Richtung, in die ihre Doppelgängerin verschwunden war. Selbst wenn ihr die Angst über die Wahrheit womöglich das Herz einfror, sie musste das Mädchen zur Rede stellen!
»Warte!«, schrie sie, als sie sich aufgerappelt hatte, doch das Mädchen war auf der gegenüberliegenden Seite des Parkplatzes bereits im Wald verschwunden. Ciel wollte ihr nach, aber der Verkäufer packte sie grob am Oberarm und hielt sie fest.
»Ich glaube, wir müssen uns mal unterhalten«, knurrte er.
»Nein, bitte, ich habe nichts getan!« Verzweifelt wehrte sich Ciel gegen den starken Griff. »Hier, ich habe den Beutel mit den gestohlenen Sachen und …«
»Spar dir das für die Bullen auf!«, brüllte der Verkäufer, der sie weiter mit einer Hand festhielt, während er mit der anderen sein Handy aus der Hosentasche zog.
Jetzt geriet Ciel richtig in Panik. Was sollte sie der Polizei sagen? Sie hatte ja selbst keine Ahnung, was hier passiert war, wer das Mädchen war und warum es genauso aussah wie sie.
»Lassen Sie das Mädchen los!«
Der Verkäufer wirbelte herum und zog Ciel mit sich. Hinter ihnen stand ein Junge, der ungefähr in Ciels Alter sein musste. Er war so leise aufgetaucht, dass keiner der beiden es gemerkt hatte. Er trug ein weißes T-Shirt, darüber eine weiße Jacke, und dunkelblaue Jeans. Außerdem hatte er leuchtend blondes Haar und grüne Augen, die wie Smaragde funkelten.
Ciel spürte, wie sie rot wurde, während sie ihn anstarrte. Er war so unglaublich schön, auf eine Art wie die Männer in Modezeitschriften schön waren. Sie schluckte. Kam es ihr nur so vor oder war es ziemlich warm geworden?
»Was willst du?«, fuhr der Verkäufer ihn mit einer Mischung aus Wut und Überraschung an. »Ich wurde gerade ausgeraubt. Die Täterin ist zwar auf der Flucht, aber hier habe ich ihre Komplizin.« Er verstärkte seinen Griff um ihren Arm, sodass sie vor Schmerzen aufstöhnte.
»Ich bin nicht …«
»Schweig!«, brüllte der Verkäufer sie an. »Ich weiß doch, was ich gesehen habe.«
»Keine Sorge. Ich kümmere mich darum«, versprach der Junge ruhig und griff nach Ciels Hand.
Sie erschauderte, als seine Berührung eine heiße Welle durch ihren gesamten Körper sandte. Für einen kurzen Moment wurde ihr sogar leicht schwindelig, als die Wärme sich in jedem Winkel ihres Körpers ausbreitete. Ein Teil von ihr empfand seine Berührung als befremdlich und wollte am liebsten sofort fliehen. Doch dann war da noch ein anderer, noch mächtigerer Teil von ihr, der nicht wollte, dass er sie jemals wieder losließ. Aus irgendeinem Grund hatte seine Berührung etwas Beschützendes, denn all ihre Ängste waren mit einem Mal komplett verflogen. Und diese Wärme, die er verströmte … So etwas hatte sie noch nie gespürt. Oder bildete sie sich das alles nur ein?
»Was fällt dir ein, du frecher Bengel? Wer zum Teufel bist du überhaupt?«, verlangte der Verkäufer zu wissen, doch der Junge sah ihn bloß schweigend und mit einem kühlen Blick an.
Der Verkäufer hielt noch immer Ciels Arm fest und wedelte mit dem Handy in der Hand herum. Eine Warnung, dass er jederzeit die Polizei rufen konnte.
»Steckst du etwa auch mit den beiden Mädchen unter einer Decke, hä? Ihr werdet jetzt so lange hierbleiben, bis ich …«
Doch was immer er noch sagte, bekam Ciel nicht mehr mit. Sie spürte ein schmerzhaftes Pochen in den Schläfen, und ihr Gesicht verzerrte sich. Ihr war schlecht, und vor ihren Augen drehte sich alles. Ihr Herz schlug ihr plötzlich so schmerzhaft gegen die Brust, dass sie nach Luft schnappen musste. Hätte man sie nicht festgehalten, wäre sie zu Boden gesunken. Verzweiflung und Wut schlugen mit aller Macht die Klauen in ihr Herz.
»Ich sagte, ich habe nichts getan!«, schrie sie, gegen die Tränen ankämpfend, und das Echo ihrer eigenen Stimme hallte ihr in den Ohren wider.
Für einen kurzen Moment sah sie an dem Verkäufer vorbei zum Supermarkt. Im nächsten leuchtete ein greller Blitz, ein Lichtfunken, vor ihren Augen auf und es gab einen ohrenbetäubenden Knall. Lautes Bersten ertönte– und hinter ihnen stand der Supermarkt lichterloh in Flammen! Loderndes, knisterndes Feuer verzehrte das große Gebäude. Dichter, schwarzer Rauch stieg empor und verdunkelte den Himmel binnen Sekunden ein weiteres Mal an diesem Tag. Glasscherben regneten auf den Asphalt des Parkplatzes nieder. Brennende Trümmerteile des Supermarkets wurden durch die heftige Explosion in die Lüfte geschleudert, stürzten wie Kometen zurück auf die Erde und hinterließen Löcher im Beton. Alles geschah beinahe gleichzeitig.
»Was