Verärgert hängte sie den Stoff seitlich an einen verbogenen Nagel am Fenstersims. Unfassbar, dass sie sich schon zum zweiten Mal in etwas hineingesteigert hatte, das in Wirklichkeit völlig harmlos war. Diese Wette setzte ihr scheinbar mehr zu, als sie erwartet hatte.
Ihr gesamter Körper sträubte sich, als sie sich erneut der Öffnung näherte. Dieses Mal jedoch blieb eine unerwünschte Überraschung aus. Zum Glück!
Viel konnte man allerdings im Inneren nicht ausmachen. Das fluoreszierende Display ihrer Armbanduhr leuchtete grün auf.
19:56 Uhr.
Wenn sie noch ansatzweise pünktlich zum Halloween-Ball kommen wollten, musste sie endlich durch das Fenster steigen.
Ein Knacken dicht hinter Katie nahm ihr die Entscheidung ab. Eilig drückte Katie die Gardine komplett zur Seite, griff nach der Fensterbank und zog sich daran hinauf. Mit Schwung setzten ihre Beine über den Sims und landeten in einem stockdunklen Raum. Sofort ließ Katie die Taschenlampe hektisch umherwandern. Ein Ende des weiten Raums war nicht auszumachen. Es musste sich um einen riesigen Saal handeln. Ein alter Kronleuchter, der an der Decke hing, begann im Schein des Lampenlichts wie eine Diskokugel zu reflektieren. Jetzt erkannte Katie mehr Einzelheiten. An den langen Wänden standen in weiße Tücher gehüllte Tische und Stühle, so als ob der Besitzer der Villa jeden Moment zurückkehrte, um hier einen Ball zu veranstalten. Doch die dicke Staubschicht und die zahllosen Spinnweben überall ließen Katie daran zweifeln. Sachte wurden die hellen Laken von einem Luftzug erfasst und bewegten sich geisterhaft. Einfach schnell das Licht durch das nächstbeste Fenster leuchten und nichts wie weg.
Dazu musste Katie allerdings erst einmal ein ganzes Stück im Raum weitergehen. Weil sie durch das zerbrochene Fenster eingestiegen war, hatte sie sich zu weit vom Blickfeld des Gartenzauns entfernt. So würden Gina und ihre Clique das Licht niemals von außen sehen. Also blieb Katie nichts anderes übrig, als den Raum zu durchqueren.
Leise und stets darauf bedacht, so wenig Geräusche wie möglich zu machen, schlich sie dicht an der Wand entlang zu den nächstgelegenen Fenstern. Ihr Atem ging nur noch flach, um jedes mögliche Geräusch in der Umgebung besser wahrnehmen zu können. Auch wenn sich wahrscheinlich keine weiteren Menschen in diesem Raum befanden, so konnten doch Tiere hier Unterschlupf gefunden haben und sich durch ihre plötzliche Anwesenheit bedroht fühlen. Außerdem hatte sie keine Lust Geister aufzuwecken. Man wusste ja nie.
Nur noch wenige Schritte trennten Katie vom nächsten Fenster. In der Ferne ertönten leise Glockenschläge des alten Kirchturms der Kleinstadt.
20:00 Uhr.
Die Halloween-Party in der Schule begann.
Katie blickte erleichtert auf die milchige Scheibe vor sich, die nicht mal mehr einen Meter von ihr entfernt war. Gleich hatte sie es geschafft.
Plötzlich nahm sie ein Geräusch wahr: ein leises Summen direkt hinter ihr. Schlagartig erstarrte Katie. Zuerst war es so leise gewesen, dass sie dachte, das rauschende Blut in ihren Ohren spiele ihr einen Streich. Doch allmählich wurde das Summen lauter und der Raum begann in einem schwachen, bläulichen Licht zu leuchten. Katies Gesicht war starr auf das rettende Fenster gerichtet, das unmittelbar vor ihr lag. Sie wollte losrennen und fliehen, Hilfe rufen oder sich zumindest verteidigen. Doch ihre Beine versagten den Dienst. Sie schaffte es nicht einmal mehr, sich umzudrehen. Aber das war auch nicht nötig. Durch die Spiegelung in der Glasscheibe vor sich hatte sie einen perfekten Blick auf das Rauminnere und was sie sah, war alles andere als beruhigend.
Ein immer heller werdender Lichtball begann in der Mitte des Raums zu glühen. Bedrohlich pulsierten seine Lichtkreise und das Summen begann in Katies Ohren zu schmerzen. Wie in Trance konnte sie von Weitem die letzten Schläge der Kirchturmuhr hören. Angestrengt zählte sie jeden einzelnen Schlag mit und versuchte ihr rasendes Herz dadurch zumindest etwas unter Kontrolle zu bekommen. Das Brummen wurde immer lauter und brachte ihren Kopf zum Schmerzen. Ein Gefühl der Benommenheit machte sich in ihr breit.
Vier, Fünf, … Was um alles in der Welt passiert hier?
Sechs, Sieben, … Renn!
Mit dem achten Schlag explodierte der Raum. Katie wurde zu Boden geworfen. Schützend warf sie die Arme über den Kopf. Eine Druckwelle durchstob den Saal, traf ihren Körper und presste ihr erbarmungslos die Luft aus der Lunge. Verzweifelt rang sie nach Atem, aber ihr Gehirn schien keinen Sauerstoff mehr aufzunehmen. Ihre Wahrnehmung begann zu schwinden. Dann hörte und sah sie nichts mehr.
KAPITEL 2
Bin ich tot?, war das erste, das Katie durch den Kopf schoss. Reglos verharrte sie in ihrer Position. Ihr Körper tat weh und fühlte sich gleichzeitig seltsam taub an. Was war passiert? Flashbackartig kamen die Erinnerungen an das bläuliche Licht, die Druckwelle und den Sturz zurück. Woher war diese Explosion gekommen? Eine defekte Gasleitung? Ein misslungenes Zündeln von Jugendlichen? Als sie den Kopf hob, durchfuhr ein stechender Schmerz ihre Schulter und wanderte unangenehm brennend in ihre rechte Hand. Wenn sie tot war, warum spürte sie dann Schmerzen?
Langsam ließ Katie die Hände von ihrem Kopf gleiten, darauf bedacht, ihre Schulter nicht zu sehr zu strapazieren, und nahm im nächsten Moment Klänge klassischer Musik wahr. Na wunderbar. Also war sie doch gestorben und die Musik kam von den Engeln im Himmel, die sie mit Harfen und Trompeten im Reich Gottes willkommen hießen. Am liebsten hätte sie sich geweigert, ihre Augen aufzumachen und damit der Realität entgegen zu treten. Falls man im Himmel überhaupt von Realität sprechen konnte. Doch ihre Neugier siegte. Sie MUSSTE einfach die Augen einen Spaltbreit öffnen.
Ein grelles Licht stach in ihre Pupillen. Schützend riss sie eine Hand vors Gesicht, als etwas ihren Arm ergriff. Erschrocken fuhr sie herum, öffnete erneut die brennenden Lider und blickte in zwei strahlend blaue Augen, die einer Welt aus glänzenden Eisbergen und Kristallen glichen. Katie blinzelte mehrfach, um wieder klare Sicht zu bekommen und erkannte schließlich einen Jungen in ihrem Alter, der über sie gebeugt stand und sie mit einer Mischung aus Überraschung und wachsamen Interesse musterte. Er war groß und hatte fast schulterlanges, dunkelblondes Haar, das er zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Zwei Strähnen fielen ihm widerspenstig ins Gesicht. Auf seiner Stirn breitete sich eine besorgte Falte aus. Mit festem Griff umschloss seine Hand Katies Arm.
»Ist Euch etwas passiert? Wartet, ich helfe Euch auf.«
Katie war zu überrumpelt, um zu antworten. Wo um alles in der Welt war sie? Den Himmel hatte sie sich jedenfalls ganz anders vorgestellt. Nicht, dass sie enttäuscht war. Der Junge, der ihr mittlerweile auch seine andere Hand anbot, sah wirklich gut aus und schien nett zu sein. Doch sie hatte eher engelsgleiche Kinder in weißen Seidenhemden erwartet, die Harfe spielend auf einer Wolke saßen. Stattdessen beugte sich nun ein potenzieller Quarterback in einem etwa knielangen Mantel aus schimmerndem, goldblauem Stoff über sie; einem Justaucorps, wenn sie sich richtig an die Betitelung dieses Kleidungsstückes erinnerte. Unter seiner Jacke blitzte eine eng anliegende Weste hervor, die farblich perfekt mit der Knickerbockerhose und den langen Strümpfen harmonierte. Seine schwarzen Lackschuhe glänzten im hellen Licht des Raums und ließen die goldenen Schnallen auf der Oberseite wie Sterne funkeln. Sein Outfit erinnerte Katie an historische Kleidung aus einem Museum oder ihren Geschichtsbüchern.