»Ja, aber das glaubt doch keiner.«
»Ihr vielleicht nicht. Doch die Tatsache, dass Ihr unsere Villa nicht verlassen könnt, sollte Euch vielleicht stutzig machen.« Er warf ihr einen belehrenden Blick zu. »Es ist Tradition, dass alle fünfzig Jahre der goldene Kürbis, eine Art vergoldete Laterne, mit einer Kerze erleuchtet wird, um an Jack O‘Latern zu erinnern. Anstelle von Kostümfesten, wie es das einfache Volk tut, veranstalten wir einen Maskenball. Jedes halbe Jahrhundert wird dazu eine andere Adelsfamilie vom Rat der Zwölf auserwählt, der die große Ehre zuteilwird, diesen Ball auszutragen und den Kürbis gemäß der Tradition zu erleuchten. Im Jahre 1670 wurde meine Familie ernannt. Die Legende besagt: Wenn der goldene Kürbis in der Halloweennacht nicht aufleuchtet, werden uns die Toten finden und ein Unheil geschieht. Diese Verantwortung lag also dieses Mal in unseren Händen. Als wir den goldenen Kürbis um Mitternacht vor unseren Gästen präsentieren wollten, war er jedoch verschwunden. Unsere Wachen, mein Vater und ich haben nach ihm gesucht, ihn aber nirgendwo gefunden. Der Dieb musste ihn versteckt haben. Was dann passierte, kann ich nur vermuten. Ich schätze, dass der Fluch am nächsten Morgen seinen Lauf genommen hat und wir seitdem in einer Zeitschleife feststecken. Eure Anwesenheit ist der Beweis dafür, dass meine Theorie stimmt. Ich denke, dass wir seit jener Nacht alle fünfzig Jahre erneut diesen Abend durchleben müssen. Vermutlich solange, bis es uns gelingt, den Dieb zu finden und den goldenen Kürbis zu erleuchten.«
»Okay, zum Verständnis: Ihr durchlebt diese Nacht alle fünfzig Jahre?«
»Korrekt.«
»Das heißt, wenn wir jetzt 2020 haben und du angeblich aus dem Jahr 1670 stammst, dann hast du schon … warte … SECHS Mal versucht, den Dieb zu finden?«
»Ja«, sagte Nicolas, »und jedes Mal versagt.« Er senkte seinen Blick und starrte ausdruckslos auf seine Hände.
Eine bedrückende Stille breitete sich im Raum aus. Das Knacken des Kaminfeuers schien auf einmal unnatürlich laut.
»Soll das bedeuten, du bist schon über 350 Jahre alt?! Aber, du siehst noch so jung aus … so durchtrainiert und … gutaussehend … na, du weißt schon …« Katie biss sich auf die Zunge. Was redete sie da für einen Unsinn!
Nicolas grinste sie verschmitzt an und genoss sichtlich ihr plötzliches Unbehagen wegen seines scheinbar attraktiven Äußeren. Katie zwang sich, ihn direkt anzuschauen, die Situation irgendwie zu überspielen und dabei nicht völlig peinlich berührt rot anzulaufen. »Ah, ich verstehe. Das war ein Scherz, richtig? Sehr witzig. Hahaha, ich lache jetzt noch.«
»Definitiv nicht. Aber danke für dieses reizende Kompliment.« Seine Augen funkelten sie intensiv an und er machte eine kleine Kunstpause, um sie noch einen Moment länger zappeln zu lassen.
»Doch ich muss Euch enttäuschen. Ich bin nach wie vor siebzehn Jahre alt.«
»Das verstehe ich nicht.« Katie war nun mehr als verwirrt.
»Passt auf. Alle fünfzig Jahre stehen die Planeten am Himmel in einer bestimmten Konstellation zueinander. Genau dann erzeugen sie eine Art unsichtbares, magisches Kraftfeld. Deshalb wird traditionsgemäß in dieser Nacht der goldene Kürbis erleuchtet. Wird dies nicht getan, tritt der Fluch in Kraft. Und genau das ist im Jahr 1670 passiert. Der Fluch sorgt dafür, dass die Villa und alle Gäste darin zeitlich eingefroren wurden. Stellt Euch vor, wir seien Salzsäulen, die alle fünfzig Jahre für einen einzigen Abend erwachen, um erneut die Chance zu erhalten, den goldenen Kürbis zu erleuchten. Schaffen wir es nicht, wandern die Planeten weiter, das Kraftfeld schwindet und wir werden erneut für ein halbes Jahrhundert versteinert.«
»Heißt das etwa, dass ich jetzt mit euch hier in dieser Zeitschleife gefangen bin? Was passiert, wenn der Dieb in dieser Nacht nicht gefasst wird? Muss ich dann auch alle fünfzig Jahre wiederkommen und diesen Abend erneut durchleben? Moment mal. Kann ich in der Zwischenzeit überhaupt nach Hause?«
Katie schnappte entsetzt nach Luft. Ihr wurde schwindelig. Eilig sprang sie vom Stuhl auf und lief ein paar Schritte, um das Blut in ihrem Körper besser zirkulieren zu lassen. Das durfte nicht wahr sein. Ihr Kopf begann zu schmerzen und sie presste die Hände gegen ihre Schläfen. Bestimmt war das Ganze ein Witz von Gina. Eine Falle mit versteckter Kamera. Wie hatte sie das bloß mit der unsichtbaren Barriere hinbekommen?
»Leider ist das kein Witz.«
Katie lachte bitter auf. Wieso sollte sie Nicolas glauben? Andererseits klang die Vorstellung, dass Gina hier eine versteckte Kamerashow abzog, noch bescheuerter. Warum sollte sie so einen Aufwand betreiben, während gleichzeitig in der Schule die Party des Jahres stieg? Irgendetwas passte nicht.
»Also gut. Solange ich nicht weiß, was mit meinem Verstand passiert ist, spiele ich einfach mal mit. Gehen wir also einen Moment lang davon aus, dass ich nicht völlig verrückt geworden bin oder mir in der alten Villa meinen Kopf gestoßen habe und als Folge einer Gehirnerschütterung an Wahnvorstellungen leide. Dann sollten wir versuchen, den Dieb zu finden, und zwar, bevor es zu spät ist. Hast du denn irgendeine Vermutung, wer der Täter sein könnte? Was hast du denn überhaupt die letzten Male angestellt, um ihn NICHT zu fassen?« Sie erntete einen strafenden Blick von Nicolas. Den leichten Spott im Tonfall konnte sich Katie einfach nicht verkneifen. Die Vorstellung, 350 Jahre lang einem Dieb hinterher zu rennen und ihn nicht zu fangen, war nicht gerade eine Glanzleistung.
»Wie ich bereits sagte, kann ich mich nicht daran erinnern. Ich weiß lediglich, dass der goldene Kürbis in dieser Nacht gestohlen wird.«
»Na gut, und was hast du heute Nacht schon unternommen, damit wir ihn dieses Mal schnappen?«
»Wir?«, skeptisch wanderte seine linke Augenbraue nach oben.
»Wir?«, äffte Katie ihn nach. »Jetzt fang bitte nicht mit der ›das ist nichts für Frauen – ihr-seid-doch-viel-zu-schwach-und-hilflos‹Masche an. Falls du es nicht mitbekommen hast, ich komme aus dem weniger frauenfeindlichen 21. Jahrhundert und es geht hier auch um MEIN Leben und MEINE Zukunft. Oder hast du vorhin nicht selbst gesagt, dass unser BEIDER Schicksal davon abhängt. Ich werde dir natürlich helfen, den Dieb zu enttarnen. Also, womit fangen wir an?«
Nicolas musterte sie ausdrucklos. Dieses Mal jedoch hielt sie seinem Blick stand. Er schien mit sich zu ringen, denn erst nach einer gefühlten Ewigkeit nickte er zögerlich. Katie vermutete, dass er sich unsicher war, wie er sie einschätzen sollte. Schließlich war sie eine völlig Fremde, die ohne Einladung auf den Ball geplatzt war. Das machte sie nicht gerade weniger verdächtig.
Vertraute er ihr? Sofort stellte sie sich die Gegenfrage: Vertraute sie ihm denn?
»Schön. Ich vermute, der Dieb ist jemand aus meiner Familie oder unserem engsten Bekanntenkreis. Alle anderen Gäste haben keine Möglichkeit, an den goldenen Kürbis heranzukommen. Der Raum ist mit Wachen gesichert und nur durch eine einzige Tür erreichbar.«
»Bist du dir sicher, dass es keine Möglichkeit gibt, dort auf einem anderen Weg einzusteigen?«
Entschieden schüttelte er den Kopf. »Definitiv.«
»Und warum bleibst du nicht einfach im Raum und bewachst den Kürbis bis Mitternacht? Dann könntest du doch den Dieb beim Eintreffen auf frischer Tat ertappen und dingfest machen.«
Nicolas grummelte unwirsch. »Das habe ich bereits versucht. Da bin ich mir sicher. Aber offensichtlich hat es nicht geklappt. Wir müssen es auf einem anderen Weg probieren. Zumal im Raum bereits die besten Wachen aufgestellt sind. Es hat keinen Sinn, wenn wir uns dazustellen. Statt auf den Dieb zu warten, sollten wir lieber aktiv nach dem Täter suchen und ihn am besten noch vor dem Diebstahl ausfindig machen.«
Katie blickte ihn nachdenklich an. »Wie wäre es, wenn wir den Kürbis an einem anderen Ort verstecken.«
»Das würde mein Vater niemals zulassen. Außer mir glaubt niemand, dass wir uns in einer Zeitschleife befinden. Auch mein Vater nicht. Deshalb weigert er sich den Kürbis an einen anderen Ort zu bringen. Und die Wachen würden niemals zulassen, dass ich den Kürbis ohne seine Erlaubnis aus dem Raum entferne.«