"Play yourself, man!". Die Geschichte des Jazz in Deutschland. Wolfram Knauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfram Knauer
Издательство: Bookwire
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783159615172
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bei Weber mitwirkte, gefolgt von einem schmalzigen Geigensolo des Bandleaders. Der Titel wird auf dem Label der Platte als »Einlage in der Haller-Revue 1927/28 ›Wann und Wo‹« beschrieben und wurde auch von anderen Bands, etwa der des Pianisten Hermann Bick alias Ben Berlin, eingespielt. In einer zweiten Aufnahme durch Marek Weber (HMV E.G. 639) wird Briggs im selben Arrangement von einem anderen Trompeter ersetzt, und der Unterschied ist enorm: Wo Briggs in seinem Solo mit sicherer Stimme die Töne beugte, ist dieser Trompeter vor allem darum bemüht, seine Phrasen rhythmisch spannend zu betonen; Soundnuancen bleiben da ziemlich außen vor. Marek Weber ging 1933 nach England, lebte dann eine Weile in der Schweiz und emigrierte 1937 in die USA, wo er sich schließlich als Geflügelfarmer in der Nähe von Chicago niederließ.

      Revue Nègre: »Sie spielen ohne Dirigenten«

      Der Pianist Sam Wooding (geb. 1895) stammte aus Philadelphia und war nach Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg als Tenorhornist in Frankreich stationiert gewesen. Anfang der 1920er Jahre leitete er eine Band, mit der er große Bühnenshows begleitete. Um die Faszination des europäischen Publikums für schwarze Künstler wissend, plante ein gewiefter Agent eine Revue, die speziell für den europäischen Markt geschrieben wurde. Die Show Chocolate Kiddies, die einige Nummern des damals noch weitgehend unbekannten Duke Ellington enthielt und an deren Choreographie wohl auch die deutsche Schöpferin des Ausdruckstanzes Mary Wigman beteiligt war, hatte am 25. Mai 1925 im Berliner Admiralspalast Premiere, wo das Stück unter großem Beifall von Kritik und Publikum acht Wochen lang gespielt wurde, um dann in Hamburg, Stockholm, Kopenhagen und vielen anderen größeren wie mittelgroßen Städten zwischen Skandinavien und Budapest, Prag und Paris zu gastieren.

      Neben Wooding und den Chocolate Kiddies war zeitgleich auch eine andere Truppe auf dem europäischen Markt der Revuetheater erfolgreich unterwegs: die Revue Nègre, die der New Yorker Pianist Claude Hopkins (geb. 1903) mit seinem Septett begleitete, dem unter anderem der Klarinettist Sidney Bechet angehörte. Eigentlicher Star der Revue Nègre war allerdings die Sängerin und Tänzerin Josephine Baker. Beide Ensembles reisten kreuz und quer durch Europa, feierten, wo immer sie hinkamen, große Erfolge, und konfrontierten ihr Publikum meist zum ersten Mal mit einer authentischen Spielpraxis des afro-amerikanischen Jazz, wie man ihn nicht von Schallplatten, geschweige denn von Noten erahnen konnte. Die Kritiken sind durchsetzt mit rassistischen Klischees, zeugen aber auch von einer ehrlichen Bewunderung für die fremde Art des Musikmachens. So liest man etwa in Das Blaue Heft nach der Berliner Uraufführung der Chocolate Kiddies: »Sie spielen ohne Dirigenten, denn jeder einzelne trägt den Rhythmus in sich, die Synthese aus der wilden, starken Urnatur ihrer Heimat und Vergangenheit und der jagenden Nervosität des modernen Amerika. Rhythmus ist alles bei ihnen, in ihrem Gesang, in ihrem Tanz, in ihrer Komik, in der kleinsten Bewegung.«59

      Claude Hopkins’ Band war im Stummfilm Der Prinz und die Tänzerin von 1926 mit Willy Fritsch zu sehen, und Josephine Baker wurde zur Symbolfigur einer multiethnischen und sexuell befreiten Moderne, die sich im Werk etlicher Künstler, in Malerei, Bildhauerei, in Gedichten und Geschichten sowie in den Songs des politischen Kabaretts wiederfand. Baker handelte sich in Berlin ein Verfahren wegen Vertragsbruchs ein, als sie die Show für ein Engagement in den Folies Bergère in Paris einfach verließ. Ohne ihren Star hatte die Revue Nègre weitaus weniger Erfolg. Hopkins’ Band fiel auseinander, bevor der Pianist mit seinen Musikern in ein europäisches Tonstudio gehen konnte. Mit unterschiedlichen Besetzungen tourte Hopkins immerhin noch bis Anfang 1928 durch Europa, bevor er in die Vereinigten Staaten zurückkehrte. Wooding dagegen, dessen Band über die Jahre Musiker wie der Trompeter Tommy Ladnier, der Klarinettist Garvin Bushell und der Saxophonist Gene Sedric angehörten, kehrte zwar ebenfalls kurzfristig nach New York zurück, war aber bald wieder in Europa und spielte zwischen 1925 und 1931 in Berlin, Barcelona und Paris zahlreiche Aufnahmen ein.

      Es kann nicht genug gewürdigt werden, welchen Einfluss Bands wie die von Sam Wooding oder Claude Hopkins oder aber die anderen Tournee-Ensembles und Solisten, die in diesen Jahren Europa bereisten, auf die Musiker hierzulande hatten. In ihren Auftritten konnten Europäer diese Musik zum ersten Mal live erleben, ihre Unmittelbarkeit, die Spannung der Improvisation und die Überraschung, die mit jeder neuen Interpretation verbunden war.

      Der Klarinettist Garvin Bushell, der mit den Chocolate Kiddies tourte, erinnert sich, dass die Band in der ersten Hälfte der Show im Bühnengraben saß, aber nach der Pause auf der Bühne, und dass sie dort niemals Noten vor sich gehabt hätten. In diesem Teil wurde es am jazzigsten; hier erklangen auch reine Instrumentals, der »Indian Love Call« etwa, der »Shanghai Shuffle« oder W. C. Handys »St. Louis Blues«.60 Als Hommage ans deutsche Publikum spielte die Band außerdem einen von Sam Wooding eigens arrangierten Schlager, Richard Falls »O Katharina«, den auch Bernard Etté und andere Tanzorchester seit 1924 im Programm hatten. Woodings Arrangement macht Anspielungen auf deutsche Volkslieder und populäre Songs der Zeit, etwa das »Loreleylied«, den »Dummen Augustin«, »Horch, was kommt von draußen rein«, »O Tannenbaum« oder »Ausgerechnet Bananen«; er lässt die Klarinette mal wiehern und lachen, dann aber auch wieder die ganze Band in Polkamanier begleiten. Improvisation spielt auch hier kaum eine Rolle, doch der Witz, mit dem auf Spielweisen des amerikanischen Jazz genauso wie auf das Repertoire deutscher Kapellen Bezug genommen wird, ist beispielhaft und wird in der Lässigkeit und dem immer sicheren rhythmischen Ansatz von keiner deutschen Band auch nur ansatzweise erreicht.

      Woodings Auftritte in Berlin und anderswo in der Republik überraschten selbst die Zuhörer, die zu wissen meinten, was es mit dem neuen Jazz auf sich hatte. Alfred Löw, der Deutschland in den 1930er Jahren verließ und unter dem amerikanisierten Namen Alfred Lion in New York zusammen mit seinem Freund Francis Wolff das Label Blue Note gründete, kam eher zufällig in die Show im Admiralspalast, sah zum ersten Mal überhaupt schwarze Musiker und hörte solch eine Art Musik, die ihn sofort gefangen nahm. Sein Leben lang sollte er sich an diesen ersten Eindruck erinnern, der seine Neugier auf das Land und auf die Stadt, aus der diese Musik stammte, schürte, und der ihn letzten Endes dazu brachte, den Musikern, die er so verehrte, Gehör zu verschaffen, indem er ihnen auf seinem Label eine Plattform bot.

      Neben afro-amerikanischen ließ sich auch eine Reihe weißer amerikanischer Musiker in Berlin nieder. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass die deutsche Hauptstadt eine Metropole für den Jazz in Europa war. Selbst diejenigen Musiker in den USA, die es noch nie zu Tourneen auf den alten Kontinent verschlagen hatte, spielten zumindest mit dem Gedanken, weil sie so viel über die lebendige Szene hörten – wobei diese Geschichten die Musik genauso wie Verdienstmöglichkeiten, das bunte Leben und, im Zeitalter der Prohibition, die Verfügbarkeit von Alkohol betrafen.61

      »Damenkapellen« in der Weimarer Jazzrepublik

      Die Arbeit von Komponisten im Bereich der als »Jazz« verkauften Musik in der Weimarer Republik beschränkte sich vor allem auf Schlager und eingängige Tanzarrangements. So fasziniert sie auch von den Beispielen der durchreisenden amerikanischen Bands waren, an Jazz als eine eigene Kunstform dachte von den Musikern in jenen Jahren kaum einer. Jazz war nach wie vor Synonym für populäre Tänze wie Foxtrott oder Shimmy, es war eine stilistische Vokabel, nicht anders als Tango, Walzer, Couplet oder Chanson.

      Berlin war zwar das unangefochtene Zentrum der Unterhaltungindustrie der 1920er Jahre, doch auch Hamburg und andere Großstädte hatten Revuetheater und Cabarets. Ab Ende der 1920er Jahre wurde es nicht nur für ein Ensemble vom Rang Sam Woodings, sondern auch für jene seiner deutschen Kollegen interessant, auf Gastspieltournee durch Deutschland zu gehen.62 Alle größeren Städte besaßen ein reges Nachtleben. In München etwa war das erste Konzert Lud Gluskins im Jahr 1928 so schnell ausverkauft, dass die Veranstalter angesichts der Nachfrage entschieden, die Musik über Lautsprecher auf den Vorplatz des Luitpold-Kinos zu übertragen.63 In Hamburg gab es neben dem berüchtigten Rotlichtviertel auf St. Pauli jede Menge Varietés, das Hansa-Theater im Stadtteil St. Georg zum Beispiel. In Frankfurt fanden sich das Schumann-Theater, gleich gegenüber dem Hauptbahnhof, und der Kristallpalast, der unter einem großem Panoramadach von einer alten germanischen Stadt gesäumt schien, in der Altstadt. In Bremen ging man ab 1929 ins Astoria in der Katharinenstraße, in Köln ab 1931 in den Kaiserhof. Leipzig hatte im Krystallpalast, einem spektakulären Gebäudekomplex aus