"Play yourself, man!". Die Geschichte des Jazz in Deutschland. Wolfram Knauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfram Knauer
Издательство: Bookwire
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783159615172
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meint, dass das Banjo in der englischen Volksmusik etwa die Rolle der Zither in der alpenländischen Volksmusik einnehme, beschreibt die Melodik des Jazz als meist banal und erklärt, die Rhythmik sei vor allem durch die Synkope bestimmt. Es ist eines der am häufigsten anzutreffenden Missverständnisse der Zeit, dass jene Offbeat-Phrasierung, die sich im Jazz findet und die schwer exakt in Notenschrift festzuhalten ist, tatsächlich Synkopen seien, bewusste Taktverschleierungen. Bernhard führt sie zudem nicht allein auf afrikanische oder afro-amerikanische Musizierpraktiken zurück, sondern auf die Rhythmik und Metrik der englischen Sprache. Er beschreibt ferner die Entwicklung des Jazz als die von einer Volksmusik zu einer musikalischen Ware. Außer dem legendären Saxophonisten und Klarinettisten Jasbo Brown, der 1915 im Café Schiller in Chicago gespielt haben soll und den er zwar nicht als den Erfinder der Musik, wohl aber als Namensgeber identifiziert, nennt Bernhard kaum Musikernamen, hebt dann jedoch Paul Whiteman als denjenigen heraus, »der als erster den Versuch gemacht hat, die Jazzband aus dem Stadium der mehr oder weniger improvisierten Tanzmusik hinaufzuführen in die Atmosphäre des symphonischen Orchesters«.75

      Im Ursprungsland des Jazz wurde er publizistisch nicht anders dargestellt: Auch dort fand der authentische Jazz höchstens in Berichten über Tanzlokale Erwähnung; in den seriöseren Zeitschriften und Fachmagazinen wurde er entweder als Ragtime (also klar komponierte Salonmusik) oder über den Ansatz Paul Whitemans rezipiert, der mit seinem Aeolian Hall Concert (in dem übrigens auch die Uraufführung von George Gershwins »Rhapsody in Blue« stattfand) versuchte, das Genre als Kunst- und Zuhörmusik zu vermarkten.

      Paul Whiteman in Deutschland

      Paul Whiteman (geb. 1890) hatte seine Karriere als Bratschist im Denver und San Francisco Symphony Orchestra begonnen. Er spielte klassische Kammermusik und nebenbei ein wenig populäre Musik. Während des Ersten Weltkriegs leitete er eine vierzigköpfige Navy-Band, mit der er tagsüber Märsche und abends für Bühnenshows spielte. Dem Beispiel John Philip Sousas und anderer folgend, nutzte er für seine Programme bald auch das Ragtime- und frühe Jazzrepertoire. 1918 gründete er seine erste Tanzkapelle in San Francisco, mit der er dann nach Los Angeles, Atlantic City und ab 1920 nach New York ging, wo sein Orchester schnell große Erfolge mit Arrangements von Tagesschlagern hatte.

      Whitemans Orchester setzte sich aus zwei Trompeten, zwei Posaunen, drei Holzbläsern und einer Rhythmusgruppe zusammen, dazu mindestens zwei Streicher, bei besonderen Konzerten oder Aufnahmen waren es mehr. Whiteman engagierte die besten Musiker, sichere Blattspieler, die meist mehr als nur ein Instrument spielten; er beschäftigte hervorragende Komponisten und Arrangeure, unter ihnen Afro-Amerikaner wie Don Redman und William Grant Still, aber auch Victor Herbert, in den späten 1930er Jahren sogar Duke Ellington, insbesondere aber Ferde Grofé, der dem Ensemble neben anspruchsvollen Arrangements von Tagesschlagern auch Konzertstücke auf den Leib schrieb. Mitte der 1920er Jahre gab es in ganz Amerika Orchester, die Whitemans Stil nachahmten, und für viele Journalisten, vor allem aus dem klassischen Lager, stand Whitemans Musik für eine künstlerisch wertvollere Variante des von ihnen zu sehr als Modemusik angesehenen Jazz.

      Paul Whiteman mit seinen Jazz-Symphonikern (Zeichnung in der Deutschen Allgemeinen Zeitung, 1926)

      Später waren Jazzkritiker nicht allzu gnädig mit Whitemans Œuvre, das sie als zu kommerziell und seicht ansahen, weil ihnen das Risiko und die Improvisationsfreude des Jazz fehlten. Tatsächlich machte Whitemans Musik zwar ausgiebig Gebrauch von Streichern, nutzte Klischees aus der klassischen Welt wie etwa den Dirigierstab und hatte stark durchgeformte Arrangements im Repertoire; das improvisierte Solo allerdings spielte nur eine untergeordnete Rolle. Whiteman selbst hatte in den 1920er Jahren angeblich davon gesprochen, er wolle aus dem Jazz »eine Lady« machen und ihn in die amerikanischen Konzertsäle bringen. Bereits 1919 sagte er in einem seiner ersten Interviews über den Jazz: »Viele gute Musiker wollen keine Tanzmusik spielen. Ich finde, das ist eine falsche Einschätzung. […] Der moderne Jazz kann auch weniger rau gespielt werden und dann recht gut klingen. Das ist mein Ansatz. Tanzen und Musik gehören nun mal zusammen. Man kann sich das eine schwer ohne das andere vorstellen. Man kann also verfeinern oder ablehnen, ganz wie man mag. Populäre Musik hat ihre Zeit und sie hat ihren Platz, genauso wie die klassische Musik.«76

      Trotz solcher Skepsis gegenüber den raueren Klängen des Jazz legte Whiteman Wert darauf, dass in seinen Orchestern immer genügend Jazzsolisten mitwirkten, der Trompeter Bix Beiderbecke etwa, der Posaunist Jack Teagarden, der Geiger Joe Venuti, der Gitarrist Eddie Lang oder der Saxophonist Frank Trumbauer. Sie wurden von Whiteman sogar ausdrücklich engagiert, um in den oft überladenen Arrangements die Jazzpartien und -soli zu spielen.

      Whitemans Ansatz, Jazz konzertsaaltauglich zu arrangieren und aufzuführen, faszinierte auch etliche europäische Bandleader. Im Frühjahr 1926 kam der »King of Jazz«, wie Whiteman in der Presse gern bezeichnet wurde, für eine Tournee nach Europa. In Wien traf er sich mit Franz Lehár und Emmerich Kálmán – und schon dieses Interesse an der Operette zeigt, in welchem Umfeld Whiteman sich selbst verortete. In Berlin wohnte das Orchester im Fürstenhof und wurde entsprechend empfangen. Die Lufthansa spendierte Freiflüge in die nähere Umgebung, und als das Orchester für sein erstes Konzert am 25. Juni 1926 im großen Schauspielhaus probte, schauten Professoren der Hochschule für Musik vorbei, aber auch Arnold Schönberg, Franz Schreker und Fritz Kreisler.77

      Whiteman war ein wenig nervös vor dem Konzert. Das Große Schauspielhaus fasste immerhin mehr als 3000 Besucher, außerdem hatte die deutsche Presse im Vorfeld Ressentiments gegen den zu erwartenden Jazz und die Band aus ehemaligen Kriegsfeinden durchblicken lassen. Seine Sorgen aber waren völlig unbegründet; das Konzert wurde ein Riesenerfolg, und wenn auch die Rezensionen in den Tageszeitungen mit den Jazzelementen wenig anfangen konnten, zollten sie doch der Virtuosität der Band allergrößten Respekt.78 Nach fünf Konzerten in Berlin vergab Whiteman am letzten Abend im Schauspielhaus einen von ihm gesponserten Preis für den besten Foxtrott eines deutschen Komponisten in Höhe von 200 Dollar, den Otto Lindemann erhielt. Whiteman hatte musikalisch Eindruck gemacht, was unter anderem daran zu ermessen ist, dass die Berliner Philharmoniker am 6. September 1926 zusammen mit einigen der besten in Berlin verfügbaren Jazzmusiker Ferde Grofés »Mississippi Suite« aufführten, eine Art Tondichtung mit Anklängen an afro-amerikanische Spirituals und den Karneval in New Orleans, an die Gebiete der amerikanischen Ureinwohner und die Geschichten Mark Twains.79 Die Chocolate Kiddies mögen Musiker und Fans wegen der authentischen Kraft der Improvisation mehr begeistert haben; Whitemans Konzerte in Berlin erreichten insbesondere das intellektuelle Publikum, das seine Musik neugierig und fasziniert, aber ob des populären Erfolgs durchaus auch kritisch hinterfragte.

      Die erste Jazzklasse und das Musik-Echo

      Bald machte ein Lehrbuch von Arthur Lange die Runde: Arranging for the Modern Dance Orchestra (1926). Indem er das Procedere im Whiteman-Orchester kodifizierte – die Abwechslung von großorchestralen und im dreistimmigen Satz gefassten Hot-Chorussen für drei Saxophone und für zwei Trompeten mit Posaune –, beeinflusste er die Arrangeure der großen Orchester auch in Europa stark. Whiteman selbst umriss seine Prinzipien 1926 in seiner Autobiographie: »Am wichtigsten ist es, dass sich, nachdem das Thema gespielt ist, die Instrumentierung jeweils nach einem halben Chorus ändert. Dazwischen gibt es Tonartenwechsel, für die ein vier- oder achttaktiges Zwischenspiel eingefügt wird. […] Vor vier Jahren konnte man noch einen ganzen Chorus mit nur einer rhythmischen Idee spielen. Heute muss es mindestens zwei, wenn nicht noch mehr rhythmische Ideen geben.«80

      Mike Danzi beschreibt, wie Langes Methode, die diesen und andere Ansätze lehrbuchhaft niederschrieb, den Sound auch des deutschen Jazz verändert habe: »In den frühen 1920er Jahren hatten Bands wie die von Bernard Etté, Efim Schachmeister, Mitja Nikisch und andere zwar Arrangements, aber die klangen alle ein wenig wie Ouverturen – mit vielen Verzierungen und Kadenzen. Nachdem der Arthur-Lange-Stil in Europa populär wurde, entwickelten sich die Arrangements hin zu einem moderneren Ansatz, bei dem ein guter rhythmischer Beat, bessere Soli und Ensemble-Jazz-Passagen im Vordergrund standen. Mehr und mehr führte diese Entwicklung auch dazu, dass Bandleader sich ihre Arrangements quasi aufs Orchester schreiben ließen, anstatt gekaufte Arrangements