"Play yourself, man!". Die Geschichte des Jazz in Deutschland. Wolfram Knauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfram Knauer
Издательство: Bookwire
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783159615172
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als der erste wirkliche Jazzmusiker in Deutschland genannt, und seine Aufnahmen aus dem Jahr 1924 gehören auf jeden Fall zu den ersten Beispielen, die belegen, dass Musiker nicht nur die vordergründigen Eigenschaften, sondern auch ein wenig vom Geist des Jazz verstanden hatten. Im Januar 1924 interviewt ihn der Korrespondent des New York Herald, dem Borchard erklärt: »Es ist wahr, die Deutschen tun sich schwer damit, diese komplexen amerikanischen Synkopen zu lernen.« Während andere Musiker ihr Wissen um den Jazz aus Noten bezogen, war es für Borchard am wichtigsten, dass seine Musiker Jazz von Platten lernten. »Der Schlagzeuger, der Posaunist und all die anderen müssen genau zuhören und auf ihren Instrumenten der Platte eine Stunde jeden Tag folgen, damit ihnen in Fleisch und Blut übergeht, was Synkopen wirklich bedeuten.« Als Resultat, rühmt er sich, habe er in seiner Band das Expertenwissen, für das die klassischen Musiker in Deutschland bekannt seien, und zugleich ein Wissen um all die Dinge, die wirklich guten Jazz garantierten.35

      Seine Aufnahmen aus dem Jahr 1924 zeigen, dass er nicht übertrieb. »Aggravatin’ Papa« etwa stammt vom Oktober des Jahres, und wurde damit nur anderthalb Jahre aufgenommen, nachdem Bessie Smith dieses Stück eingespielt hatte. Eher als Smith scheinen Borchard und seine Musiker aber einer Aufnahme der Original Memphis Five vom Januar 1923 gelauscht zu haben, wie zumindest der generelle Klang der Band mutmaßen lässt, der dem jenes Quintetts sehr nahekommt. Emile Christian spielt ein phänomenales Solo, und das Erstaunlichste ist vielleicht, dass die anderen Soli neben ihm nicht völlig abfallen. Borchard, der drogensüchtig war, wurde 1931 wegen Totschlags zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt, nachdem er in Saarbrücken versucht hatte, einer Freundin, die eine Überdosis Schlafmittel genommen hatte, den Magen auszupumpen, wobei sie erstickte. 1932 war er noch einmal im Studio, ging dann nach der »Machtergreifung« der Nazis nach Holland, wo er im Juli 1934 wahrscheinlich an einer Überdosis Drogen starb.

      Borchards Musik räumt mit dem Klischee auf, dass Musiker in Europa den Jazz nicht verstanden hätten. Sein Statement im New York Herald zeigt, dass Musiker hierzulande durchaus die Qualitäten der oralen Überlieferung begriffen hatten, die den Jazz und die afro-amerikanische Musik prägten. Er wusste um das Problem der Rhythmik, und er wusste, dass Improvisation für europäische Musiker schwer zu erlernen war. So erstaunt es nicht, dass Emile Christian nicht der einzige amerikanische Musiker blieb, der über die Jahre in seiner Band mitwirkte. In der zeitgenössischen Presse aber machte Borchards Sucht nicht weniger Schlagzeilen als seine Kunst. »Seiner Musik«, schreibt etwa ein Berichterstatter nach dem Saarbrücker Gerichtsprozess, der in seinen Auftritten seine Drogensucht durchzuhören meint, »haftet etwas Wildbizarres an, das die Menschen lockt, ohne daß sie die Gründe für diese krankhafte Interessantheit der Musik des Jazzkönigs kennen. Dabei klingen aus den wilden Rhythmen der Kapelle bereits die düsteren Töne eines Todesjazzes.«36 Borchard war aber gewiss eine Ausnahmeerscheinung. Reisen bildet – auch musikalisch –, aber nur wenige andere Musiker hatten die Chance, Jazz, oder zumindest Vorformen dessen, was bald zum Jazz werden sollte, in seinem Ursprungsland kennenzulernen. Tatsächlich brauchte es dafür, sofern man sich über den Atlantik begab, ja nur offene Ohren, wie kein Geringerer als der tschechische Komponist Antonín Dvořák in den 1890er Jahren bewiesen hatte, als er an der Manhattan School of Music unterrichtete und seine amerikanischen Schüler aufforderte, sie sollten sich die Melodien der amerikanischen Ureinwohner und die geistlichen Gesänge der schwarzen Bevölkerung zu Gemüte führen und darauf eine eigene amerikanische Musiksprache aufbauen. Hierzulande jedenfalls wurden Borchard und andere Jazzmusiker gern als »Musikclowns« beschrieben, und diese Zueignung galt nicht nur ihren Bühnenkostümen oder Instrumenten, sondern zuvörderst der Tonbehandlung und den scheinbar akrobatisch-waghalsigen Experimenten, auf die sie sich einließen.

      Malen nach Zahlen: Lernen von Noten

      Borchard wirkt also im Rückblick wie eine Ausnahme und zugleich wie ein Vorgriff auf Erfahrungen, die andere Musiker erst etwas später machen konnten. Eine, wenn nicht die entscheidende Zäsur für die Jazzgeschichtsschreibung in Deutschland war die Ankunft der ersten afro-amerikanischen Bands Mitte der 1920er Jahre. Mitchell’s Jazz Kings, die in England und Frankreich bereits vor 1920 für Aufsehen gesorgt hatten, waren in Deutschland nicht zu hören gewesen, und außer Borchard gab es kaum deutsche Musiker, die den Weg nach Amerika gefunden und dort authentische Beispiele des Jazz gehört hatten.

      Der Pianist Erwin Rosenthal immerhin hatte vergleichbare biographische Erfahrungen und nahm 1921 unter dem Pseudonym Fred Ross verschiedene Titel auf, die schon in der Besetzung mit oft parallel geführten Geigen- und Banjomelodien wie eine Mischung aus Salon- und Ragtime-Ensemble klingen. In seinen Aufnahmen hatte vor allem das Klavier antreibende Funktion, während sich die Perkussion auf Holzblöcke beschränkte, was allerdings der Tatsache zuzuschreiben ist, dass man in der Zeit der Trichteraufnahmen auf komplette Schlagzeugsets im Studio verzichtete, weil die Gefahr bestand, dass deren heftige Vibration die Nadel zum Ausrutschen bringen und damit die wertvolle Matrize zerstören konnte. Ross konnte keine Noten lesen und auf dem Klavier angeblich »nur in Fis-Dur und Cis-Dur mit zwei Fingern spielen«37. Mit Jazz von der Klanggestalt, in der Borchard seinen amerikanischen Vorbildern huldigt, hat das dabei reichlich wenig zu tun.

      Für alle anderen Musiker waren Anfang der 1920er Jahre die wichtigsten Informationsquellen über amerikanischen Jazz vor allem Notenpublikationen und Schallplatten. Noten allerdings erlaubten weder einen Eindruck von dem Sound dieser Musik noch gaben sie Aufschluss über die Improvisation. Sie pressten im besten Fall populäre Stücke in ein starres Ablaufschema, das Wiederholungen zuließ und oft, wie die meisten Ragtimes und frühen Broadway-Schlager, mehrthematisch angelegt war. Fred Ross’ »Ja-Da« oder sein »Watch Your Step« von 1921 zeigen kaum wirkliche improvisatorische Veränderung der Themen, weder solistisch noch im Kollektiv. Und von Improvisation mag man selbst angesichts der angeblich mangelhaften Notenfestigkeit des Bandleaders kaum sprechen. Notenveröffentlichungen wurden vielleicht als »Jazz« oder »Blues« angepriesen; tatsächlich dienten sie aber vor allem der Tanzmusikbranche. Es handelte sich in der Regel nicht einmal um Bandarrangements, sondern um Klavierfassungen, deren Untertitel – Cakewalk, One-Step, Shimmie, Foxtrott, Boston oder Tango – auf ihren angepeilten Einsatzbereich hindeuteten. Die Aufgabe vieler Kapellen vor Ort war es danach, diese Klavierfassungen jazzmäßig aufzublasen, also jazztypische Instrumente einzusetzen, vor allem Banjo und Schlagzeug, bald das Saxophon oder eine, in Anlehnung an die Original Dixieland Jazz Band, jazzmäßig phrasierende Posaune. Noten auf der anderen Seite waren analysierbar und sorgten, wie wir später sehen werden, für etliche Missverständnisse im Kreis der europäischen Konzertmusik darüber, wie Jazz tatsächlich funktioniert.

      Die Anfänge der Schallplattenindustrie

      Borchard hatte den richtigen Weg beschritten, seinen Musikern Platten vorgespielt und sie aufgefordert, sich die Spielhaltung anzueignen. Durch die Blockade der Alliierten nach dem Krieg fanden die ersten Jazzschallplatten erst um 1922 ihren Weg nach Deutschland, während alles davor höchstens auf Umwegen aus England oder Frankreich importiert war.38

      Wie hörte man – egal ob Musiker oder Musikliebhaber – in diesen Jahren eigentlich Musik?

      In den USA hatte Anfang der 1920er Jahre die Tonträgerindustrie langsam begonnen, den bis dahin weit bedeutenderen Markt der Notenveröffentlichungen zu überholen. Musik wurde vor der Industrialisierung der Tonaufzeichnung vor allem live genossen, ob im Konzert oder im heimischen Zusammenspielen. Klavierwalzen waren ein großer Verkaufsschlager; Walzenklaviere standen in öffentlichen Sälen wie auch in bürgerlichen Haushalten. Sie waren eine Art Zwitter zwischen der Möglichkeit, selbst Musik zu machen, und der mechanischen Vervielfältigung von Musik. 1898 war in Hannover die Deutsche Grammophon gegründet und zugleich die Massenproduktion von Schellackplatten begonnen worden. Anfang des Jahrhunderts wurden weitere, meist kleine Labels ins Leben gerufen, deren Betreiber darauf hofften, dass die allmähliche Standardisierung Tonträger in Form der 78-Umdrehungen-Schellackplatte zum Massenmedium werden lassen könne, die die zuvor benutzten Walzengeräte ablöste. In den USA entwarf die Plattenfirma Columbia Abspielgeräte, die nicht länger wie Grammophone aussahen, sondern sich unauffällig in die Möblierung einpassen ließen. In Amerika waren die ersten Plattenlabels dabei noch als Nebenprodukt bisheriger Musikvermarktung entstanden – etwa als Zweig von Notenverlagen oder aber als Ableger einer