Bei der Tour de France hatten Sponsoren schon oft inoffizielle Preise für die Letztplatzierten ausgelobt. Von einer lanterne rouge hörte ich, dass ein Autohersteller ihm in einem Jahr angeblich sein neuestes Modell angeboten hätte, aber das kann ich nicht bestätigen. Einzelpersonen haben auch Dutzende von sogenannten primes für den Letzten gespendet, der einen Ort durchfährt, oder für den »größten Pechvogel« unter den Fahrern. Die lanterne rouge wurde jedoch niemals offiziell anerkannt, und es hat nie einen offiziellen Preis dafür gegeben. Der französische Radsportverband FFC (Fédération Française de Cyclisme) verbietet sogar jegliche primes für Letztplatzierte.14 Er gehört damit in die gleiche Kategorie wie etwa der Prix de l'Humour für den witzigsten Fahrer des Jahres sowie der Prix Orange und der Prix Citron, die von der Presse für den freundlichsten bzw. den unkooperativsten Fahrer verliehen werden. Auch diese Auszeichnungen sind bekannt, aber nirgendwo offiziell abgesegnet.
Ich fragte mich, ob Pescheux auch diese Ambivalenz gegenüber der lanterne rouge an den Tag legte. Auf der einen Seite war es möglich, dass er die frühe Verehrung für den »Kult der Überlebenden« von Goddet geerbt hatte, aber auf der anderen Seite hatte er auch einen Logenplatz bei einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Tourdirektor Félix Lévitan und einer lanterne rouge in den späten 70er Jahren. Nun, es gab eine Möglichkeit, das herauszufinden.
Pescheux erwies sich als freundlicher und sehr hilfreicher Mann mit gebildeter und eleganter Ausdrucksweise. Von Anfang an bewies er die Denkweise, die hinter der FFC-Regel steht: Wenn es Preise für den Letzten gibt, »dann findet die Schlacht hinten statt, obwohl sie doch eigentlich an der Front ablaufen soll«, wie er sagte. Damit hatte er die unkomplizierte Wahrheit auf die direkte Weise ausgesprochen, die Radrennfahrern manchmal zu eigen ist, da sie es gewohnt sind, geradeaus zu blicken. Es stellte sich jedoch auch heraus, das J. F. Pescheux nicht feindlich gegenüber der lanterne rouge eingestellt war. Seiner Meinung nach hatte sie nur seit den frühen 80er Jahren an Bedeutung verloren und war in der modernen Zeit unwichtig geworden.
»Damals wurde dem Letzten in der Tour eine rote Laterne übergeben, die er auf der Schlussetappe an sein Rad hing. Es war symbolisch, und er wurde wie ein Star behandelt. Aber all das ist jetzt vorbei«, sagte er, »jetzt ...« Er hielt kurz inne, um sein Gedächtnis zu prüfen, und fuhr fort: »Ich kann Ihnen nicht einmal den Namen des Letztplatzierten der Tour in diesem Jahr nennen.« Pescheux gab zu, dass der Verlust einiger der Dinge, die bei der Tour außer Mode gerieten, durchaus bedauernswert ist. So tat es ihm beispielsweise um die Teamwertung leid, die zweitwichtigste Wertung nach dem Gelben Trikot, die heute nicht mehr öffentlich zelebriert wird. Die lanterne rouge dagegen gehörte nicht dazu. Er fuhr fort: »Heute ist es fast mehr eine Schande als eine Ehre. Von der Zeit, in der es eine Ehre war, lanterne rouge zu sein, sind wir zu einer Zeit übergegangen, in der man einfach nur Letzter in der Tour ist.« Heute würden die Fahrer sagen: »›Ich bin nicht der Letzte in der Tour, ich bin die Nr. 135.‹«
Für diesen Wechsel sah er viele Gründe. Einer davon ist, dass inzwischen viel mehr Fahrer an dem Rennen teilnehmen. 2013 standen 198 Teilnehmer an der Startlinie, während es in den 60ern und 70ern noch 120 oder 130 waren. Außerdem sind die Gehälter im Profiradsport gestiegen, was die Kriteriumrennen nach der Tour weniger bedeutend macht. Diese Rennen finden in den Wochen nach der Tour statt und wurden ursprünglich von Geschäftsleuten in den Städten organisiert, die im betreffenden Jahr nicht besucht wurden, und in Belgien und den Niederlanden, um sich die Aufregung vor die eigene Haustür zu holen. Promoter nahmen die Stars der Tour für eine hohe Antrittsgebühr unter Vertrag und füllten die Teilnehmerliste mit weniger bekannten Tourteilnehmern und örtlichen Schwergewichten auf. In der Abenddämmerung vollführten die Fahrer dann eine sorgfältig inszenierte Show auf einem begrenzten Parcours in der Innenstadt, um den Einwohnern einen Eindruck von der Spannung der Tour zu geben und sie die Stars, deren Taten sie während der drei Wochen im Juli in der Zeitung und im Fernsehen verfolgt hatten, in ihren eigenen Straßen erleben zu lassen. Wenig überraschend gewinnt fast immer der Träger des Gelben Trikots, oft nur eine Radlänge vor dem stärksten Rivalen. In ihrer Blütezeit gab es in Nordeuropa mehr als 50 Kriterien in den wenigen Wochen im August, bevor es mit dem ernsthaften Radrennsport wieder weiterging. Manche Fahrer nahmen sogar an zwei Rennen pro Tag teil und reisten in besonderen Charterflügen hin und her. Besonders nachgefragt waren dabei die lanternes rouges als Lieblinge der Fans und als fest verwurzelter Bestandteil des Schauspiels der Tour. Für mittelmäßige Berufstätige mit unsicheren wirtschaftlichen Aussichten war eine Einladung zu einer gut bezahlten zweiwöchigen Party schon sehr verlockend.
Wenn sie sich am unteren Rand der Gesamtwertung wiederfanden, verloren viele Fahrer bei der Tour daher bewusst Zeit – sowohl mit sauberen als auch mit unsauberen Mitteln –, um die lanterne rouge zu »gewinnen«. Der Unruhestifter und Ränkeschmied Abdel-Kader Zaaf, der 1951 lanterne rouge war, sagte: »Ich hatte angestrengt über meine Situation nachgedacht und stellte fest, dass sie gar nicht so schlecht war. Der letzte Mann wird in der Wertung deutlicher wahrgenommen als die Leute in der Mitte, die in der Masse untergehen. Allerdings ist der letzte Mann im Peloton nicht gekennzeichnet. Er kann tun und lassen, was ihm beliebt.« Zaaf behauptete, bei den Kriterien 35.000 Franc eingenommen zu haben (sein Tageslohn belief sich auf etwa 7 bis 10 Franc).
Jahre später äußerte sich der Australier Don Allan zunächst begeistert darüber, ein Rennen um den letzten Platz auszutragen: »Es gibt einen Ersten und einen Letzten. Da ich ohnehin niemals Erster werde, kann ich auch gut den letzten Platz machen.« 1974 hatte Allan die lanterne rouge in Aussicht, gewann sie aber nicht, als der Italiener Lorenzo Alaimo zwischendurch anhielt und sich am Straßenrand versteckte, um Zeit zu verlieren und die lukrativen Kriteriumspreise einzuheimsen. Auch 1975 schrammte Allan am unteren Rand entlang, verpasste aber trotzdem den letzten Platz. In der Rückschau gab Allan jedoch zu, dass er seine Begeisterung für den letzten Platz verloren hatte. »Alle sagen: ›Es ist großartig, du bekommst dadurch eine Menge Publicity dadurch‹«, soll er sich geäußert haben, »das Team sagt: ›Es ist großartig, du bekommst dadurch Geld.‹ Aber ich habe es gehasst. Ich trete doch nicht bei Rennen an, um Letzter zu werden.«
Die Kriterien nach der Tour finden auch heute noch statt, und es ist immer noch möglich, dass ein beliebter Nebenerwerbsfahrer seine Bezüge in den zwei Wochen nach der Tour verdoppeln kann, aber es gibt inzwischen nicht mehr als 12 oder 15 dieser Veranstaltungen, und sie sind für den Lebensunterhalt von Radsportlern auch nicht mehr so wichtig. Jimmy Casper war lanterne rouge der Jahre 2001 und 2004, als die Bedeutung der Kriterien endgültig geschwunden war. »Es ist kein großer Unterschied mehr, ob man Letzter oder Vorletzter wird«, sagte er, »man steht nur ein kleines bisschen mehr im Interesse der Medien.« Er gewöhnte sich daran, zu den verbliebenen Kriterien eingeladen zu werden, doch wie er sagte, lag das mehr an seinen Fähigkeiten als Sprinter und weniger an seinem Titel als lanterne rouge.
Ein letzter Faktor, den Pescheux erwähnte, ist die Form, die das Rennen angenommen hat. In den 60er und 70er Jahren hatten die Fahrer die hohen Berge gewöhnlich zu Beginn der zweiten Woche hinter sich, sodass ihnen mindestens zwei flache Etappen blieben, auf denen sie herumtrödeln und Zeit verlieren konnten. Heutzutage, insbesondere seit Christian Prudhomme das Amt des Rennleiters übernommen hat, wird diese Konvention weniger streng gehandhabt. Manchmal liegt zwischen der letzten Bergetappe und Paris nur noch eine Zeitfahretappe, was für die Zuschauer spannender, für die Fahrer aber schwieriger ist. »Die Gestaltung des Rennens hat die Haltung der Fahrer verändert«, erklärte Pescheux, »die Topografie der heutigen Tour bringt es mit sich, dass man nicht einfach machen kann, was man will. In den Bergen geht niemand ein Risiko ein.«
30 Jahre lang hatte Pescheux an dieser Entwicklung des Rennens mitgearbeitet. Eine seiner letzten Tätigkeiten bestand darin, die Karenzzeitregeln zu überarbeiten, die einen täglichen Grenzwert dafür festlegen, wie weit ein Fahrer hinter dem Gewinner liegen darf. Diese Karenzzeit wird als Prozentsatz der Bestzeit des Tages berechnet, wobei in bergigem Gelände und bei einem schnellen Rennen Zugeständnisses gemacht werden, damit die Fahrer nicht ungerecht bestraft werden, wenn die Schwerkraft ihnen das Leben schwermacht. Wer die Karenzzeit nicht einhält, wird vom Rennen ausgeschlossen. Das ist jedoch nicht als Strafmaßnahme gedacht. »Der Sinn der Karenzzeit besteht darin, Fahrer auszuschließen, die die Hände locker auf den Lenker legen, es