Und diesen Einfluss versuchte die Jugendbehörde auch geltend zu machen. Voraussetzung hierfür war eine reformfreudige Leitung. Mit Dr. Wilhelm Hertz als Direktor und dem zweiten Direktor August Hellmann waren gute Voraussetzungen gegeben, ab Mitte der 1920er Jahre die Jugendhilfe und insbesondere die Anstaltserziehung fachlich fortzuentwickeln. So wurde auch der Stachel im Fleisch der pädagogischen Praxis, die Erziehung durch Strafe, erneut auf die Tagesordnung gesetzt: Hertz verdeutlichte 1928 in den von ihm formulierten Leitsätzen den Vorrang der Erziehung vor anderen Maßnahmen: „Jede Erziehung wird sich bemühen, ohne Strafen auszukommen. Sie wird auch die Androhung von Strafen nach Möglichkeit zu vermeiden suchen. (…) Die Erziehung will den jungen Menschen ermutigen. Muss aber eine deutliche Missbilligung seines Verhaltens eintreten, so darf die Form des Tadels nicht verletzen. Ironische Behandlung ist ganz zu vermeiden, weil sie den pädagogischen Bezug stört. Vorhalte, die unter vier Augen gemacht werden können, sind dem Tadel vor der Gemeinschaft (Klasse, Gruppe) vorzuziehen.“{94} Den weiteren Ausführungen zufolge sollten Arreststrafen nicht mehr zulässig sein, sondern waren durch Einzelerziehung mit Absonderung von der Gruppe zu ersetzen. Als härteres Disziplinierungsmittel waren zusätzliche Arbeitsleistungen vorgesehen. Dabei sollte die Atmosphäre des Arrestes vermieden werden. Damit verblieb vor allem der Entzug von Vergünstigungen als mögliches Mittel, auf Fehlverhalten, wie man es damals verstand, zu reagieren. Drei Jahre zuvor hatte die Behörde bereits die „Briefsperre“, also das Zurückhalten von Post an die Betreuten, aus den Strafordnungen der Erziehungsanstalten gestrichen. Diese Entscheidung schloss aber nicht aus, „bedenkliche Briefe oder Briefteile dem Zögling vorzuenthalten.“{95} Die Achtung der Privatsphäre war dabei weniger der Grund als vielmehr der, dass die Briefsperre von den jungen Menschen als besonders hart empfunden wurde und außerdem – so die Aktenlage - seit Jahren kaum noch angewendet wurde.
Die Leitung des Jugendamtes ging 1930 noch einen Schritt weiter, indem sie das Beschwerderecht in einer Richtlinie verankern und einen „Vertrauensausschuss der Zöglinge“ einführen wollte. Überliefert ist das Protokoll einer behördlichen Besprechung zu diesem Thema, in dem sich die Anstaltsleitungen und Vertreter des Personals äußern konnten. Das Spektrum reichte von Ablehnung bis hin zu konstruktiven Vorschlägen. Direktor Schallehn von der Knabenanstalt befürchtete eine Verunsicherung der Erzieher im täglichen Umgang mit den Betreuten, wenn Beschwerderichtlinien verbrieft seien. Sie würden „wie eine Aufforderung zur Beschwerdeführung wirken“{96}. In die Diskussion wurde auch eingebracht, dass in den Anstalten der Grundsatz gelten sollte, „dass zwischen Erzieher und Zögling unmittelbares Vertrauen besteht.“ Es sei „zweifelhaft, ob wir weiterkommen, wenn wir den Zögling das Verhältnis als ein Rechtsverhältnis sehen lernen.“ Der zweite Direktor der Jugendbehörde entgegnete, dass die „Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Anstalt und Zögling nur familiär und patriarchalisch aufzufassen“ an der Tatsache scheitere, “dass am Anfang der Fürsorgeerziehung doch der direkte Zwang steht.“ Schließlich wurden die Richtlinien im Grundsatz mehrheitlich befürwortet. Allerdings wünschte man sich, die Beschwerderichtlinien in die Heimordnungen einzuarbeiten, um eine bessere Ansprache der Zöglinge zu ermöglichen und Besonderheiten der Heime berücksichtigen zu können. Der Vorstoß, einen Vertrauensausschuss der Betreuten in den Anstalten einzuführen, stieß allerdings auf Skepsis. Die Erziehungsanstalt für Knaben „würde der Gefahr einer Revolte“ ausgesetzt werden. Die Direktorin der Mädchenanstalt, Margarethe Cornils, die der Oberin Rothe 1926 im Amt folgte, hielt dagegen im Einklang mit ihren Erzieherinnen einen Vertrauensausschuss „für einen fruchtbaren und gebotenen Fortschritt.“ Am Ende wurde ein kleiner, weiterer Reformschritt erreicht: „Herr Direktor Hellmann bemerkt abschließend, dass die Hineinnahme der Richtlinien etc. in eine Heimordnung, sowie eine kindertümliche Wortung wohl ermöglicht werden kann. Der Zeitpunkt der Einrichtung der Vertrauensausschüsse kann noch offen gelassen werden.“ In der Akte ist das Schicksal der beiden Reformvorschläge leider nicht überliefert. Die Hinweise auf die Praxis in den Anstalten lassen erahnen, dass eine zügige Umsetzung in den letzten Tagen der Weimarer Republik wohl, wenn überhaupt, nur in Ansätzen erfolgte. Denn Direktor Hertz musste noch im selben Jahr klarstellen, dass „das Kahlscheren entwichener Zöglinge (…) als geeignete Strafe oder Erziehungsmaßnahme nicht anzusehen“{97} ist. Weiterhin sollten Kollektivstrafen unterlassen werden: „Eine Bestrafung von Mitzöglingen derselben Gruppe wegen Entweichens eines Zöglings soll nicht stattfinden, es sei denn, dass die Mitwirkung oder Begünstigung seitens der betreffenden Mitzöglinge anzunehmen ist.“ Auch sei die „Gruppenstrafe“ als „Mittel zur Herbeiführung von Aussagen (…) ungeeignet.“ Heute ist bekannt, dass die Reformideen die Praxis der nachfolgenden Jahrzehnte nicht erreicht haben.
Zur Bürgerschaftswahl 1927 gab der sozialdemokratische Verein eine Bilanz des „Kampfes [der SPD] um die Staatsmacht“ {98} heraus und stellte für die öffentliche Jugendhilfe fest: „In den Anstalten ist Schritt für Schritt ein freier Geist eingezogen. Eine der ersten Taten der neuen Leitung ist die Abschaffung der körperlichen Züchtigung gewesen. Die Mädchenanstalt ist von innen heraus umgewandelt.“ Das „kirchlich-konfessionelle“ Erziehungsverständnis, die „muffige, veraltete Luft“ habe einem modernen Verständnis von Erziehung Platz gemacht. Dieser allgemein gehaltene Hinweis wird im Jahresbericht des Jugendamtes von 1927 aufgeklärt: „Als besonders bedeutungsvoll hat sich der im Jahre 1926 eingetreten Wechsel in der Leitung der Erziehungsanstalt für Mädchen herausgestellt.“ Mit der neuen Leiterin, Margarethe Cornils, habe sich eine „neue und andersartige Arbeitsauffassung“ eingestellt. Die „äußere und allzu straff gehandhabte Disziplin“ sei gelockert worden und habe ein besseres Klima geschaffen, so dass „manche Reibung ausgeschaltet und ein ruhigeres, zwangloseres Leben eingeleitet“ worden sei.{99} Der Reform in der Mädchenanstalt wurde im Jahresbericht ein sehr breiter Raum gegeben, schien sie doch ein Lichtblick in der damaligen Zeit gewesen zu sein. Wie die Erziehungsdirektorin Cornils allerdings die ihr anvertrauten Mädchen sah und darauf ihre Pädagogik aufbaute, stellte sie in einem, im Jahr 1931 gehaltenen Vortrag beim AFET über das „Problem der Schwererziehbaren in der Fürsorgeerziehung – gesehen von der Arbeit an weiblichen Jugendlichen“{100} dar. Für sie war schon eine „begriffliche Klarlegung“, was die Schwersterziehbaren ausmacht, nicht möglich. Vom pädagogischen Alltag aus könnten die „Zerstörer der Gemeinschaft“ und die „Jugendlichen, deren Persönlichkeit keinen Ansatzpunkt für aufbauende Arbeit bietet oder konsequent ausweicht“ unterschieden werden. Zu den ersteren zählte sie Aggressive, Intriganten, übersteigerte Individualisten und Homosexuelle. Dem „zweiten Typ“ ordnete sie „Schwachsinnige“ und „schwere Psychopathen“ zu. Außerdem fielen in diese Gruppe: „völlig Haltlose“, „Willensschwache und Antriebslose“, die „Frühsexualisierten“, die „Abgesperrten“, womit sie vor allem die „Dirnen“ meinte, die „Dauerläufer“, die permanent entweichen und unter denen sich die „Kokainistinnen, Morphinistinnen und Trinkerinnen“ befanden, und schließlich die Aufsässigen, die „von den Eltern oder sonstigem Anhang (Cliquen, Parteien) gegen das Heim, seine Ordnung und seine Forderungen verhetzt werden“. Dieser bunte Strauß an unterschiedlichen Persönlichkeiten war für sie der Ausgangspunkt für den Vorschlag, für unterschiedliche Gruppen auch jeweils eine spezielle Pädagogik vorzusehen, wobei sie „Sonderheime für Schwersterziehbare“ ablehnte. Sie stellte sich eher unterschiedliche Gruppen in Heimen vor, die Übergänge ermöglichten. Wenn Schwersterziehbare allerdings trotz dieser besonderen pädagogischen Herangehensweise sich als nicht tragbar herausstellen würden, seien sie „Psychopathenheimen und Bewahranstalten zuzuführen“. Insoweit sprach sie sich auch dafür aus, dass „in engster Tuchfühlung mit dem Psychiater“ gearbeitet werden müsse. Für sie war es wichtig, dass pädagogisch qualifiziertes Personal in den Heimen arbeitet, das die in der Gruppe sich vollziehende „Gemeinschafts- und Freizeiterziehung“ betreibt: „Sport, Spiel, Wanderungen, Tanz, Gesang, Handfertigkeit, Handarbeit usw.“. Daneben trat sie für die die „intensive Arbeits- bezw. Berufserziehung“ ein. Wenige Jahre nach ihrem Amtsantritt, war sie sich der Grenzen ihres Anspruchs an ihre Arbeit bewusst: „Bei den Schwererziehbaren wird man bescheiden“,