Liese-Lotte war Opfer der von der Rassenkunde geprägten nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik. Zum deutschen Volk sollten nur rassisch hochwertige Menschen gehören. Neben den Juden, die aus dieser Sicht erklärte Rassenfeinde waren, weitete sich der Blick auch auf diejenigen Bevölkerungsgruppen aus, die durch geringeres Leistungsvermögen, unheilbare Krankheit oder Behinderung für die Gesellschaft eine Last darstellten.
Bereits im Juli 1933 beschloss das nationalsozialistische Regime das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das zum 1. Januar 1934 in Kraft trat. Es ermöglichte die Unfruchtbarmachung von Menschen, deren Kinder mit „großer Wahrscheinlichkeit“ an „schweren körperlichen und geistigen Erbschäden leiden werden.“ Das Gesetz beschrieb neun Gruppen von Erbkrankheiten, die aber zum Teil für eine weite Auslegung geöffnet waren. Außerdem konnte “unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet“. Der Kreis derjenigen, die eine Unfruchtbarmachung beantragen konnten, umfasste neben den betroffenen Personen oder deren gesetzlichen Vertretern auch beamtete Ärzte oder Leiter von Kranken, Heil- oder Pflegeanstalten. Das Erbgesundheitsgericht entschied über die Anträge auf Basis eines ärztlichen Gutachtens. Wurde die Zwangssterilisation beschlossen, konnte sie auch mit Mitteln des Zwangs durchgesetzt werden.{129}
Das war die Stunde der Ärzte, die sich schon seit Längerem der Rassenkunde gewidmet hatten und nun zur Tat schreiten konnten. Und das auch in der Jugendhilfe. Der Psychiater der Hamburger Jugendbehörde, Werner Villinger, hatte den Boden für die Umsetzung des Gesetzes im Bereich der Jugendhilfe bereitet, indem er erste Maßstäbe für die erbbiologische Begutachtung aufstellte. Er wechselte 1934 als Chefarzt zur Anstalt in Bethel, so dass er das Gesetz in Hamburg nicht mehr praktisch umsetzen konnte. Sein Nachfolger, der Neurologe Heinrich Lottig, setzte die erbbiologische Ideologie in der Jugendhilfe mit voller Kraft um.
Der im Jahr 1900 geborene Heinrich Lottig stammte aus einer sozialdemokratisch geprägten Familie, wählte aber, anders als sein Vater, der zu den Reformpädagogen seiner Zeit gehörte, den Beruf des Arztes. In den 1920er Jahren war er im Krankenhaus Hamburg-Eppendorf tätig und widmete sich der Zwillingsforschung an der von Max Nonne bis 1933 geleiteten Neurologischen Klinik. Der in die Jahre gekommene Nonne war über seine Entlassung 1933 hinaus als Fachmann und Gutachter tätig und bekannte sich zur Zwangssterilisation und Euthanasie. Lottig bildete seine ärztlichen Sichtweisen in einem in Hamburg und reichsweit sich ausbreitenden Klima einer rassenbiologischen Medizin aus. 1933 unterzeichnete er das Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler. Er trat 1934 Villingers Nachfolge als Leitender Oberarzt des Hamburger Jugendamtes an.
Lottig führte die rassenbiologische Ideologie sehr früh unter dem Deckmantel der Wissenschaft in die Fürsorgeerziehung ein. In den Hamburger Nachrichten vom 2. Juli1933 wurde unter dem Titel „Das schwer erziehbare Kind - die Notwendigkeit rassehygienischer Maßnahmen“{130} über einen Vortrag von ihm berichtet: „Die Unterwertigkeit der Erbmasse, deren schrankenlose Weiterverbreitung eine dringende Gefahr für den Bestand unseres Volkes ausmacht, stellt die Ursache der schweren Fälle von Schwererziehbarkeit dar.“ Unter Bezug auf seine Zwillingsstudien stellte Lottig den für ihn wissenschaftlich gesicherten Zusammenhang zwischen „intellektuellem und moralischem Schwachsinn erblicher Herkunft“ und „asozialem oder kriminellem Entarten der Persönlichkeit“ her.
Lottig schritt ab 1934 als leitender Psychiater des Jugendamtes auch zur Tat. Er war oberster Gutachter für Sterilisationsanträge für junge Menschen und ging in seinen Einschätzungen über das Gesetz sogar hinaus, indem er unter dem Begriff des Schwachsinns auch den „moralischen Schwachsinn“ fasste, der auch als „moralisch minderwertig“ klassifizierte Menschen in den Kreis des Eingriffs hineinzog. Damit konnten auch Kleinkriminelle, Obdachlose und Unangepasste unter das Messer kommen. Im April 1934 hatten Lottig und seine Mitarbeiter bereits 89 Fälle bearbeitet, von denen nur 35 als nicht sterilisierungsbedürftig befunden wurden.{131} Das weitere Verfahren nach der ärztlichen Stellungnahme betrieb dann das Gesundheitsamt. In dem Bericht, in dem Lottig diese Bilanz präsentierte, lobte er die großen Anstrengungen seiner Abteilung und klagte über die schleppende Mitwirkung von Eltern und Vormündern. Außerdem seien die Ärzte des Jugendamtes mit anderweitiger gutachterlicher Tätigkeit befasst, die „an Dringlichkeit die Sterilisierungsfälle“ überträfen. Gemeint waren vermutlich auch die Untersuchungen in der Aufnahmestation des Waisenhauses in der Averhoffstraße, das zu einem „Aufnahmeheim und Ausleseheim für männliche Jugendliche, Beobachtungsheim“{132} entwickelt worden war. Hier wurde bereits eine erbbiologische Klassifizierung der neu aufgenommenen Kinder und Jugendlichen vorgenommen, um deren weitere Unterbringung festzulegen oder sie gleich als nicht „erbwertig“ und unerziehbar aus der Jugendhilfe fern zu halten und in „Bewahranstalten“ zu überweisen.
Für die Entwicklung des Klassifikations- und Ausleseschemas wurden zunächst Fürsorgezöglinge des Mädchenheimes Feuerbergstraße nach anlage- und umweltbedingten Ursachen für die Verwahrlosung beurteilt. Das Schema wurde von Lottig bis 1936 als „Einteilung der Zöglinge nach ihrem biologischen Wert“{133} weiterentwickelt. Es war Grundlage des Ausleseprozesses. Die sechsstufige Klassifikation reichte von „wertvolle geistige und charakterliche Qualität“ über „leichte geistige und charakterliche Unterwertigkeit“ bis zu „nicht erziehungsfähig“.
Die Hamburger Erziehungsheime wurden nach diesem Schema neu organisiert, so dass „eine sorgfältige Differenzierung der Zöglingstypen möglich war“. Das Waisenhaus war in diesem Zuge in die Jugendheime Volksdorf, Reinbek und Niendorf aufgeteilt worden. In einer Darstellung des Hamburger Landesjugendamtes aus dem Jahr 1939 wird das Selektionsprinzip wie folgt dargestellt:
„A Kinder von normaler Anlage und normaler geistiger und charakterlicher Wertigkeit.
1) Kinder von normaler Anlage und normaler geistiger und charakterlicher Wertigkeit (über Durchschnitt der öffentlichen Volksschulen),
2) Ausreichende geistige und charakterliche Qualität (guter Durchschnitt)
B Kinder, die geistig oder charakterlich leicht oder schwer unterwertig, aber noch erziehbar sind mit Aussicht darauf, dass sie später keiner Anstaltsbetreuung mehr bedürfen und sich ihren Lebensunterhalt selber erarbeiten werden.
3) Leichte geistige und charakterliche Unterwertigkeit (schwacher Durchschnitt)
4) Mittlere geistige und charakterliche Unterwertigkeit (hierzu gehört der Hilfsschultyp)
C Kinder, die infolge schweren geistigen oder charakterlichen Tiefstandes eine Gefahr für die Volksgemeinschaft darstellen und daher frühzeitig abgesondert und in sparsamer Weise verwahrt werden müssen.
5) starke geistige und charakterliche Unterwertigkeit (noch gewisse Erziehungs- und Anleitemöglichkeiten; voraussichtlich aber dauernd außerstande, sich im freien Leben zu halten)
6) Hochgradig abwegige, Nichterziehungsfähige.“
Die Begutachtung und Etikettierung der jungen Menschen nach ihrem erbbiologischen Wert konnten nur ein erster Schritt sein, da man sie auch praktisch in diesen Gruppen zusammenbringen wollte. An die „erbbiologisch Minderwertigen“ wollte man keine Mühe verschwenden und sie an Orte aussondern, an denen man sie verwahren konnte. Die „Erbwertigen“ sollten jedoch in den Genuss einer Förderung an einem schönen Ort kommen. Der Hamburger Gauleiter initiierte daher Ende April 1934 das Vorhaben, die „Staatskrankenanstalt Friedrichberg mit ihren schönen Parkanlagen