Die Meinungsäußerungen wurden besprochen und führten zum Entwurf einer neuen Strafordnung, die ein wenig milder erscheint, zumindest semantisch: Das abgestufte Strafregister begann mit dem Entzug von Vergünstigungen und verschiedenen Formen der Absonderung von der Gruppe durch Arbeit in der Freizeit, Vorenthaltung der Briefpost, Zimmerarrest für einzelne Stunden oder auch mehrere Tage. Die drei härtesten Strafen waren die Entziehung der Besuchserlaubnis, „Fasttage mit trockenem Brot und Wasser“ und die Rückversetzung in die Aufnahmegruppe. Eine körperliche Züchtigung war nicht mehr vorgesehen. Der Vorschlag endete mit der Bemerkung, „dass die Reihenfolge der Strafen ihrer, von den Zöglingen empfundenen Schwere nach aufgestellt worden ist.“{82}
Der Entwurf wurde am 6. Dezember 1921 in einer Kommissionsitzung beraten, an der für die Mädchenanstalt nicht nur die Oberin Rothe, sondern auch die Erzieherinnen Petri und Heuer teilnahmen. Nach der Eröffnung der Sitzung durch den Kommissionsvorsitzenden Müller erhielt Direktor Heskel die Gelegenheit, einen Überblick über die Entwicklung der Strafordnung der Erziehungsanstalt für Mädchen zu geben. Sodann entspann sich eine Grundsatzdebatte, bei der im Vergleich zu den in der Vergangenheit geführten Diskussionen Zweifel und ein offenerer Umgang mit Erfahrungen spürbar waren. Oberin Rothe äußerte, dass sie ihre Auffassung bezüglich der Notwendigkeit einer körperlichen Züchtigung nicht geändert habe. Allerdings würde sie der Wiedereinführung widersprechen. Sie persönlich würde sie nicht mehr vollziehen, weil sie nicht wisse, „wie eine solche auf das innere Leben eines Menschen wirke“. Allerdings „seien aber frühere Zöglinge zu ihr gekommen, die ihr die empfangene Züchtigung noch nach acht Jahren gedankt hätten.“{83} Auch Direktor Schallehn von der Knabenanstalt berichtet über einen Fall des Dankes für die Züchtigung. Die Erzieherin Heuer hingegen äußerte, dass die „Züchtigung in den meisten Fällen bei dem Zögling einen Hass entwickle.“ Dem stimmte auch Direktor Schallehn zu. Pastor Gastrow vertrat die Auffassung, dass die körperliche Züchtigung nur Erfolg haben könne, „wenn das Kind die Empfindung habe, dass diese Strafe ein Ausfluss der suchenden Liebe sei.“ Diese Äußerung wurde mit der Bemerkung abgetan, dass „die Gedanken des Herrn Gastrow nur auf das Familienleben anwendbar [seien].“
Die Abgeordnete Stengele, die die Einrichtung der Kommission erwirkt hatte, führte einen neuen Gedanken ein, der die Diskussion aufkochen ließ. Kinder seien nur das Produkt der Verhältnisse, denen sie entstammten. Sie selbst habe während ihrer Tätigkeit als Erzieherin nur einmal ein Kind gezüchtigt, dies aber später bereut. „Die Erzieher dürften nicht das Odium auf sich laden, Tierbändiger zu sein“. Falls die Behörde die Züchtigung beibehalten wolle, so würde sie die Schließung der geschlossenen Anstalten fordern. Zumindest sei die Einsperrung aufzuheben.
Müller und Heskel widersprachen deutlich. Ein Verzicht auf die Arreststrafe sei unmöglich. Ebenso sei eine Schließung der Anstalten nicht zu verantworten. Die Klientel habe sich in den letzten Jahren eher zum Schlechteren entwickelt, so dass die Behörde jedes Erziehungsmittel einsetzen müsse, „ehe sie es aufgebe, sich mit einem Zögling zu befassen“. Die Abgeordnete Stengele habe „wohl zu wenig Einblick in das Zöglingsmaterial der Behörde, um über die Notwendigkeit ernster Zuchtmittel urteilen zu können.“ Damit war in der Generaldebatte alles gesagt und die Fronten waren geklärt. Die Kommission vertagte sich und sollte erst in einem Jahr wieder zusammentreten.
Die Folgesitzung fand am 1. November 1922 im Sitzungssaal der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge statt. Der Vorsitzende Müller regte an, nach der Generaldebatte in die Erörterung der Einzelfragen einzusteigen und dabei den Entwurf einer neuen Strafordnung aus dem letzten Jahr zur Grundlage zu nehmen. Dabei fasste er zusammen, dass „auf Straf- und Disziplinarmittel nicht verzichtet werden könne. Bei Abschaffung der körperlichen Züchtigung müsse wenigstens an der Arreststrafe festgehalten werden.“{84} Aber bereits dieser Auftakt war in der Kommission umstritten. Oberin Rothe berichtete über ihre aus Erfahrung gewonnene Erkenntnis, dass die Mädchen selbst eine Einsicht in ihr Fehlverhalten und dessen Verhältnis zur Strafe gewinnen müssten. „Unter Umständen“ könne das Mädchen dann auch selbst seine Strafe bestimmen oder „einen Sühnevorschlag machen. (…). Die Strafe solle ein fühlbarer Eingriff in ihre eigene Lebenssphäre sein, ohne dass das Strafmittel grausam oder nervenaufreibend sein müsse.“ Diese pädagogisch geprägten Überlegungen stellten einen Schwenk dar, der vermutlich darauf beruhte, dass körperliche Züchtigungen in der Mädchenanstalt nicht mehr praktiziert und damit keine nachteiligen Erfahrungen gemacht wurden. Die harten Strafen waren auch sehr umständlich auszuführen. Durch das Erfordernis, dass die Oberin sie auf den Hinweis eines Vergehens durch eine Erzieherin verhängen und ein Arzt zustimmen musste, ging der Zusammenhang von Fehlverhalten und Strafe verloren. Aus ihrer Erfahrung warf sie in die Diskussion ein, dass die Mädchen sehr oft „eine Sühne vorschlügen.“ Dabei würden sie oft schwerere Strafen vorschlagen, als die Erzieherinnen sie selbst erwogen. Sie berichtete weiter, dass der Arrest nicht mehr in völliger Isolierung bestand, sondern die Teilnahme an den Unterrichts- und Arbeitseinheiten beinhaltete. Stengele sprach sich erneut deutlich gegen die Prügel- und Arreststrafe aus. Sie glaubte, „dass die Prügel das Übel nur vergrößern und bei den übrigen Kindern bestenfalls nur Mitleid erregten.“ Sie glaubte, dass „die Mädchen zu den Strafentscheidungen gehört werden könnten“ und die Erzieherin dabei „wie eine Mutter“ das Mädchen belehren könne. Sie führte weiter aus, dass sie auch die Arreststrafe nicht befürworten könne, denn die Arrestzellen in der Anstalt erinnerten sie an ein Gefängnis.
Erneut entspann sich eine Debatte über die Grenzfälle, über jene jungen Menschen, die etwa durch Widerstand oder Verlust der Impulskontrolle gewalttätig in Erscheinung traten. Klar war in der Diskussionsrunde, dass „außer den Geisteskranken auch Minderwertige und Hysterische [in die psychiatrische Anstalt Friedrichsberg] überwiesen würden, die wegen akuter Erregungszustände ausgesondert werden mussten.“ Auch wenn eine ärztliche Begutachtung für die Überweisung erforderlich war, stand die Frage im Raum, ob die Prügel- und Arreststrafe bereits im Vorfeld eine „Heilung“ bewirken könne. Nach längerer Debatte hierüber sortierte sich die Diskussionsrunde klar in die Befürworter und Gegner der körperlichen Strafen. Zu den Gegnerinnen gehörten Stengele, die Oberin Rothe und die Erzieherin Heuer sowie der ebenfalls mitdiskutierende Assessor Adler. Direktor Heskel betonte erneut, dass die Strafen als Abschreckung und letztes Erziehungsmittel erforderlich seien, um die Ordnung in den geschlossenen Anstalten aufrecht zu erhalten. Auch wenn man auf die Prügelstrafe verzichten würde, würde man auf den Arrest nicht verzichten können, denn ohne ihn seien die „Anstalten nicht zu führen.“ Sein Kollege Direktor Riebesell bestätigte Dr. Heskel, dass der Grad der Verwahrlosung in der Mädchenanstalt sehr hoch sei und „darum auch auf das äußerste Zuchtmittel der Züchtigung nicht ohne weiteres verzichtet werden dürfe.“ Dann äußerte er einen Gedanken, der auf das Grundproblem in der Diskussion hinweist: „Das Problem dieser Strafe dürfe nicht verwirrt werden durch die Reformgedanken, die im Strafrecht im allgemeinen und in der Reform des Gefängniswesens vertreten würden.“ Damit waren das Unbehagen und vielleicht sogar die Furcht vor Reformen angesprochen. Die Diskussion erweiterte sich sogar zu dem noch vor kurzem undenkbaren Aspekt, ob man in den Anstalten eine Strafkommission aus den Zöglingen bilden könne oder gar sollte. Oberin Rothe mahnte zur „Vorsicht“, denn „die Mitzöglinge neigten zu allzu harten und rohen Strafen.“ Diesbezügliche Versuche waren nicht erfolgreich: „die Vertrauensmädchen würden bald abgesetzt oder bäten bald selbst um Enthebung von ihrem Amte.“ Im letzten Fall einer