Der Argumentation für die Beibehaltung der körperlichen Züchtigung und des Arrestes schloss sich auch Direktor Schallehn an. Er stellte die Frage in den Raum, was bei einer Abschaffung der Züchtigung mit den „Fällen geschehen solle, in denen ein Zögling ohne Erregung, nur zum Zwecke der Entlassung sich wild gestellt, Sachen und Räume demoliert und durch sein Beispiel erreicht habe, dass nun andere Zöglinge bereits den dritten Raum zerstört hätten.“ Antonie Kähler, ein von der Bürgerschaft gewähltes Behördenmitglied, unterstützte die Beibehaltung der Prügelstrafe: „Wenn hier im äussersten Fall mit der fühlbarsten Strafe nicht mehr ausgerichtet werden könne, dann sei auch mit Liebe nichts mehr zu erreichen.“ ‚Liebe‘ war hier nur als Mittel zum Zweck verstanden, nicht als Empathie als eine Voraussetzung für die Erziehung. Der Assessor Adler versuchte, die unterschiedlichen Positionen vorsichtig auf den Punkt zu bringen: Es sei „wohl eine Frage der Weltanschauung, ob man züchtigen wolle oder trotz aller Gründe, die dafür sprächen, aus gleicher erzieherischer Verantwortung sich zu der Strafe nicht entschließen könne.“
Am Ende der Erörterungen entschied die Behörde, die Beibehaltung der bisherigen Beschlüsse der Behörde über die körperliche Züchtigung der Mädchen zu empfehlen. Ein Unentschieden gab es bei der Abstimmung zur Arreststrafe. Damit sollte auch sie zunächst nicht angetastet werden. Zum Ende der Sitzung war nur der Entwurf der Strafordnung für die Mädchenanstalt zu einem Teil beraten worden. Man vertagte die Diskussion auf eine weitere Sitzung. Müller äußerte die Erwartung, dass es Unterschiede in den Strafordnungen der Anstalten für Mädchen und Knaben nur geben solle, wenn das Geschlecht den Unterschied rechtfertige. Außerdem müssten „die Erziehungsmaßnahmen (…) wohl von den Strafen getrennt werden.“
Die Kommission traf sich vier Wochen später am 29.11.1922 zu ihrer 3. Sitzung{85}. In dieser Besprechung erhielt zunächst Direktor Schallehn von der Knabenanstalt das Wort und erläuterte die von ihm favorisierten Grundsätze für eine Erziehung in den Anstalten für die ‚sittlich verdorbene‘ Jugend. Diese sei anders zu betrachten als die „normale“ Erziehung durch Eltern zu Hause, fuße aber auf dem gleichen Grundsatz: „Lohn und Strafe sollen in der normalen Erziehung nur mässig angewandt werden, seien aber als Heilmittel heranzuziehen wie die Medizin, die der Arzt dem kranken Körper gebe.“ Der Erzieher in der Anstalt verfüge über eine „Stufenfolge von erzieherischen Massnahmen und Strafmitteln“, die er nach eigenem Ermessen einsetzen können müsse. Die „Strafreihe“ beginne mit dem „strafenden Blick oder der Ermahnung“ und die Wirkung der Strafe würde erhöht, wenn sie „aus der unmittelbaren sittlichen Empörung hervorgehend der Tat unmittelbar folge. (…) Die körperliche Züchtigung sei der gewaltsame Eingriff, der scharfe Schnitt, zu dem der Arzt im Notfall greife und zu dem sich auch der Erzieher entschliessen müsse, wo Weichlichkeit nicht angebracht sei: bei den schwierigen Elementen sei zuweilen eine derbe Tracht Prügel notwendig, um sie zur Besinnung zu bringen und andere abzuschrecken.“ Er belegte seine Auffassung mit den Geschehnissen in der Anstalt: In der Zeit der Diskussion über die Strafen sei die Prügelstrafe kaum noch verhängt worden und das Ergebnis sei, dass die Zahl der Entweichungen 1919 bei 99 und 1920 bereits bei 206 lag, um dann 1921 auf 263 zu steigen. „Die Mehrzahl sei wiederholt im Laufe desselben Jahres entwichen.“ Sie würden sich in Kaschemmen herumtreiben. Man könne kaum glauben, dass die Jungen nach ihrer Rückkehr wiederaufgebaut werden könnten. Im Übrigen entstehe dem Staat durch diese Jungen, die das Inventar der Anstalt zerstören und draußen ihr „Anstaltszeug“ verkauften, ein erheblicher Schaden, den er auf 60 Tausend Mark im Jahr bezifferte. „Nur die Furcht vor Strafe könne die Zöglinge vom Entweichen zurückhalten.“ Er musste auf Nachfrage allerdings einräumen, dass sich der ursächliche Zusammenhang zwischen der Zurückhaltung bei der Anwendung der Prügelstrafe und des Ansteigens der Zahl der Entweichungen „natürlich auch nicht beweisen lasse“. Ein weiterer Aspekt seien die Übergriffe auf das Personal. Unlängst sei ein „angegriffener Erzieher von einem längeren Krankenlager zum Dienst zurückgekommen.“ Die Kommission war sich in diesem Punkt einig, dass „ein Schutz der Erzieher dringend notwendig“ erscheine. Direktor Schallehn schloss seine Ausführungen mit dem Hinweis, dass sich das gesamte Personal „einstimmig“ dafür ausgesprochen habe, die körperliche Züchtigung und den Arrest als Strafmittel beizubehalten.
Durch den Vortrag angeregt, diskutierte die Kommission die Bestrafung des Entweichens: Die einen Zöglinge würden im Moment des Entweichens nicht an die Strafe denken, die anderen, die freiwillig zurückkehren wollen, würden durch die Erwartung der Strafe von der Rückkehr abgeschreckt. Direktor Schallehn entgegnete, dass „die Rückkehr aus weichen Stimmungen“ nicht gerade häufig vorkommen würde. Er stellte fest, dass die in die Anstalt überwiesenen Jungen eine Abwehr gegen ein geregeltes Leben überhaupt mitbrächten und sich daher auch gegen die Anstaltsordnung wehren würden. Er lenkte im Weiteren dann insoweit ein, dass die Prügelstrafe nicht auf ein bestimmtes Ereignis unweigerlich folgen müsse, sondern die Möglichkeit ihrer Anwendung gegeben sein müsse, um sie dann je nach Fall auch in milderem Maße oder gar nicht zu verhängen. Während Direktor Heskel dem zustimmte, lehnte die Beigeordnete Kähler jegliche Züchtigung und den Arrest ab. „In die Anstalt müsse etwas wärmeres als die Strafordnung hineingebracht werden, deren Drohungen die Zöglinge nur der Anstalt fernhielten.“ Diese pädagogisch geprägte Sicht rief den zweiten Direktor auf den Plan. Die Anstalten hätten de jure die Pflicht, die Zöglinge in ihrer Gewalt zu halten. Auch wenn Entweichungen durch Strafandrohung im Einzelfall nicht verhindert werden könnten, so werde „aber die Gesamtheit … durch die Strafandrohungen zurückgehalten. Ohne bestrafen der Entweichungen sei die Anstaltserziehung am Ende.“ Und schließlich müsse man Entweichungen auch „zum Schutze der Allgemeinheit vor diebischen, gewalttätigen oder kranken Zöglingen“ verhindern.
Auch wenn es angesichts dieser kontroversen Stellungnahmen zunächst aussichtslos erschien, sich auf eine novellierte Strafordnung zu verständigen, wurde aber genau dies erreicht. Die bereits milderen Entwürfe wurden in der Reihenfolge der Strafen verändert und die geringeren Strafen wie die Entziehung von Vergünstigen und der Freizeit den Erzieherinnen und Erziehern überlassen. Nur die härteren Strafen sollten von den Anstaltsleitungen genehmigt werden. Dabei wurde die körperliche Züchtigung als Maßnahme bei „schwersten Verfehlungen“ und „im äußersten Notfall“ an die letzte Stelle und der auf sechs Tage begrenzte Arrest an die vorletzte gerückt. Die Reihenfolge sollte aber nicht als zu durchlaufende Eskalationskette verstanden werden. Die Strafen sollten bei der Auswahl am Einzelfall ausgerichtet sein.
Der Vorschlag, dass die leichteren Strafen, die durch die Erzieherinnen und Erzieher verhängt werden durften, der Anstaltsleitung zu melden seien, um Angemessenheit und Missbrauch überprüfen zu können, wurde für die Mädchenanstalt angenommen, für die Knabenanstalt jedoch mit dem Hinweis auf „das den Zöglingen gegebene und von ihnen auch recht oft in Anspruch genommene Beschwerderecht“ verworfen.
Es war ein Kompromiss gefunden worden, der aber am Ende noch einer letzten Klarstellung bedurfte. Sollten die Anstaltsleitungen angehalten sein, die Strafen „auf Verlangen der Behörde“ auch zu verhängen, also auch die Prügelstrafe und einen verschärften Arrest? Oberin Rothe wollte das sicherlich nicht, Direktor Schallehn wollte dagegen über das komplette Repertoire an Strafmaßnahmen verfügen. „Die Meinungen sind geteilt“, wurde im Protokoll notiert. Man verständigte sich auf die Antwort, „dass schliesslich in jedem Einzelfall die besonderen erzieherischen Erwägungen ausschlaggebend bleiben müssten.“ Die Kommission beendete damit ihre Arbeit. Das glaubte sie zumindest.
Am 14. Dezember wurde das Ergebnis der Kommission in der Plenarsitzung der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge beraten. Sie verwies die Frage der körperlichen Züchtigung an die Kommission zurück, die am 21. März 1923{86} erneut zusammentreten musste. Neu dabei war der Vorsitzende Biedermann und neben ihm nahmen die Beigeordnete Kähler, die Abgeordnete Stengele, Pastor Manhardt und die Beamten Creutzburg und Adler teil. Oberin Rothe und Direktor Schallehn, die beiden Anstaltsleitungen, waren ebenfalls geladen. Direktor Heskel war nicht mehr im Amt. Seine Rolle vertrat Direktor Hellmann.
Der Vorsitzende eröffnete die Sitzung mit einem Paukenschlag. Er teilte mit, dass seine