Es wurde unruhig. Die meisten Schüler hatten die Einzelarbeit abgeschlossen und warteten darauf, die Analyse des Redetextes vorgesetzt zu bekommen. Alicia arbeitete in der Regel als einzige Schülerin aktiv mit. Heute schoss Lous Arm in die Höhe.
»Gut, dann fasse bitte den Text zusammen.« Die Inhaltsangabe gelang ihm problemlos.
Für den nächsten Teilschritt der Redeanalyse nahm Rebecca eine stille Schülerin dran. Während das Mädchen redete, beugte sich Lou nach links und betrachtete sie aufmerksam. Rebeccas Augen schweiften zwischen Elouan und ihr hin und her und eine ungekannte Eifersucht durchflutete sie.
Lou meldete sich erneut, doch Rebecca musste ihn ignorieren, um andere Schüler zu hören. »Max?« Elouan funkelte sie böse an. Da Max kaum ergiebige Fakten lieferte, forderte Rebecca: »Lou, ergänze doch bitte.« Doch seine Deutungen gingen in eine verkehrte Richtung.
»Überlege noch mal, ob das richtig sein kann.«
Die Ermutigungen zogen nicht und Elouan fiel resigniert in den Stuhl zurück. Er blieb bis zum Ende der Stunde stumm und verließ den Deutschraum beinah beleidigt, wortlos.
Zu Hause angekommen, schob sich die Autotür genauso widerwillig auf, wie sich Rebeccas Körper aus dem Wagen bewegte. Die wenigen Schultage lasteten wie ein zentnerschweres Gewicht auf ihren Schultern. Dabei wollte sie sich mit der Aussicht trösten, dass es nur wenige Wochen bis zu den Osterferien waren.
Beim Aussteigen sah Rebecca die Schneewehen, die sich in der Einfahrt zu kleinen Dünen aufgetan hatten. In den letzten zwei Tagen hatte es ununterbrochen geschneit. Über der Einfahrt zum Haus hatte sich ein dichter Mantel aus weißem Samt gelegt. Rebecca stapfte durch die Schneedecke, öffnete die Haustür und zog ihre nassen Schuhe aus, die sie zum Trocknen etwas abseits stellte.
Da Paul erst gegen sieben nach Hause kam, musste sie sich in der Zwischenzeit um alles allein kümmern: Schnee wegräumen, den stehen gebliebenen Aufwasch erledigen und Unterricht vorbereiten. Am liebsten hätte sich Rebecca ins Bett verkrochen, die Decke über den Kopf gezogen und geschlafen. Noch lieber säße sie in genau diesem Moment in einem Flugzeug – irgendwohin, bloß weit weg von der Schule und von Paul.
Doch es nutzte nichts. Um sich trübsinnigen Gedanken hinzugeben, blieb keine Zeit. Sie verstaute ihre Schultasche im Arbeitszimmer, zog sich hohe Stiefel an und trottete nach draußen in die Kälte. Ihre Pelzmütze hatte sie tief ins Gesicht geschoben, da ein eisiger Wind wehte.
Ein Kampf zwischen dem Schieber und dem nassen Schneematsch zeichnete sich ab, doch Rebecca gewann. Eine Schneewehe nach der anderen verschwand vom Hof.
Erst 19:15 Uhr nahm sie von ihrem Arbeitszimmer aus die Scheinwerfer von Pauls Auto wahr. Obwohl sie schon längst Feierabend haben wollte, saß sie immer noch über ihrem Rechner und bereitete den Unterricht in den morgigen Klassen vor.
Paul brachte eine unangenehme Kälte ins Haus hinein. Er begrüßte Rebecca mit einem leichten Kuss auf die Lippen. »Machst du schon wieder so lange?«, fragte er besorgt.
»Hm. Hast du gesehen, dass ich Schnee geschoben habe?« Er verließ das Zimmer.
»Ja«, hörte sie ihn beiläufig murmeln. Rebecca konnte nur müde lächeln. Ob er wirklich registriert hatte, wie viel Arbeit sie auf sich genommen hatte?
Was für ein ignoranter Typ ihr Freund geworden war! Die Frustration steigerte sich, denn in der Vorbereitung auf die Stunde mit ihren Achtklässlern gab es Probleme. Rebecca fand ein wichtiges Arbeitsblatt nicht, das sie für eine Kopie benötigte. Weder in der Ablage noch im Ordner für diese Klassenstufe war es aufzutreiben. »So ein Mist«, fluchte sie vor sich hin.
Paul hörte davon nichts. Nachdem er seinen Mantel ausgezogen hatte, verschwand er ins Schlafzimmer. In der Regel lag er dort etwa eine halbe Stunde, bevor er zum Essen in die Küche zurückkehrte. »Wo zum Henker …« Die Flüche ließen das Arbeitsblatt nicht verängstigt unter dem Blätterstapel hervortreten. Es blieb verschwunden.
Ihr blieb keine andere Wahl, als das Arbeitsblatt noch einmal zu erstellen, in der Hoffnung, es annähernd so zu konzipieren wie ehedem.
Während sie genervt auf der Tastatur herumtippte, näherte sich der dicke Zeiger der Uhr immer mehr der Acht. Entsprechend fiel das Ergebnis aus.
Wie gerädert wachte Rebecca am kommenden Mittwochmorgen auf. Vor allem ihre eigene achte Klasse bereitete ihr bereits am Frühstückstisch Kopfzerbrechen, während sie am Kaffee nippte.
Wann trat endlich das Wunder ein, auf das sie schon so lange Zeit wartete und das sie endlich zu einer respektierten Persönlichkeit heranreifen lassen würde? Heute zumindest kam es nicht zustande.
Es war die zweite Stunde. Die nervigen Siebtklässler lagen hinter Rebecca. Jetzt blieben ihr wenige Minuten, um den Raum zu wechseln und in ihrer eigenen achten Klasse zwei Stunden Kunst zu geben.
Es hatte bereits zur Stunde geklingelt, aber weil sie nicht pünktlich den Raum der Siebtklässler abschließen konnte, war sie zu spät dran und musste über den Gang rennen, um noch pünktlich den Kunstraum zu erreichen. Eine unangenehme, peinliche Situation, die sie auf dem Gang wild vor sich hin fluchen ließ. Sie kam nie zu spät!
Schon von Weitem hörte sie eine aufgebrachte Meute durch die Gänge des Kunstflügels rufen und grölen. »Kommt die Alte heute etwa nicht?«, grölten sie. Wahrscheinlich verrieten sie die Absätze ihrer Schuhe, die laut auf dem Fußboden aufschlugen. Zumindest wurde es leiser, als sich Rebecca dem Raum näherte.
Abgearbeitet und erschöpft erreichte sie die Schülerhorde, fand aber in der Eile ihren Schlüssel nicht, mit dem sie meinte, soeben den Raum der Siebtklässler abgeschlossen zu haben. Wie irr wühlte sie in der – ihr in diesem Moment überproportional groß erscheinenden – Tasche.
Die Unruhe brandete wieder auf und schon schaute Kollegin Fröhlich aus ihrem Raum heraus, wer die Lautstärke auf dem Gang verursachte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit des Suchens bemerkte Rebecca, dass sie den Schlüssel gar nicht in der Schul-, sondern in ihrer Hosentasche hatte, aus der sie ihn nun umständlich