Mit der Wurststulle in der Hand stand Rebecca am Dienstag vor dem Vertretungsplan des Lehrerzimmers, als Heidi, Elouans Tutorin, den Raum betrat. »Und, hattest du schon Deutsch bei Lou?«
Rebecca, die gerade dabei war, das Gewirr an Zetteln am Schwarzen Brett zu sortieren, erschrak und schaute Heidi ins Gesicht. Wen meinte die Biologiekollegin?
»Du unterrichtest doch Deutsch in meinem Kurs. Hast du Elouan schon kennengelernt?«
Rebecca schüttelte den Kopf. »Nein, die kommende Stunde erst. Aber sag mal, Heidi, ich habe mich gestern mit Harald unterhalten. Über Elouan.«
Heidi lachte auf. »Bestimmt hat er ihn für verrückt erklärt.« Rebecca nickte.
»Du solltest dir ein eigenes Urteil bilden. Bei einem Kollegen ist er so, beim anderen so.«
»Wie alt ist er?«
»Zwanzig.« Heidi schaute auf die Uhr, die auch Rebecca daran erinnerte, dass der Unterricht bald begann. »Wir reden mal, wenn wir ungestört sind, ja?«
Rebecca schulterte ihre Schultasche und verließ das Lehrerzimmer, das inzwischen zu einem Stall voller wild gewordener Hennen und aufgeblasener Hähne mutiert war. Im Gegensatz dazu herrschte auf dem leeren Gang eine angenehme Stille. Nur die Absätze ihrer Stiefel erzeugten einen harten Takt, der an den Wänden des Gebäudes widerhallte.
Am Kursraum angekommen, packte sie das Deutschbuch und ihre Unterlagen aus. Vorfreude erfüllte sie angesichts des anstehenden Kennenlernens mit dem ihr noch unbekannten, aber höchst interessant erscheinenden Schüler.
Während die letzten Stimmen auf dem Schulhof verschwanden, betraten die ersten Elftklässler den Raum. Einer nach dem anderen ging zu seinem gewohnten Platz, packte die Schulsachen aus und wartete auf das Klingelzeichen. Bis auf Elouan waren alle da.
Die Elftklässler wärmten die Stühle an und starrten gelangweilt vor sich hin oder redeten mit dem Banknachbarn.
»Wir bekommen heute einen neuen Schüler. Hat ihn schon jemand gesehen?«, fragte Rebecca in die lustlose Runde, nachdem der Unterricht begonnen hatte. Alicia, ein cleveres, gut aussehendes Mädchen bejahte die Frage.
»Weiß Elouan, wo er jetzt Unterricht hat?« Die Schülerin zuckte die Schultern.
»Ich sehe mal nach«, sagte Rebecca und öffnete behutsam einen Spalt der Klassenzimmertür. Ihr Blick schweifte nach draußen auf den menschenleeren Gang.
Sie trat aus dem Raum und blicke um sich. Aber so wie sie den Schritt hinaus wagte, stand unerwartet ein schlanker junger Mann vor ihr und lächelte sie freundlich an. Er war Rebecca so nahe, dass sie sein männlich herbes Parfum riechen konnte. Er verströmte eine Aura, die nicht mit Worten zu erklären war. Ob er ihre Schüchternheit spürte? Rebecca fühlte die aufsteigende Wärme in ihrem Inneren. Ihre Wangen mussten glühen!
»Guten Tag«, sagte er freundlich, aber bestimmt. Seine Stimme war jugendlich kräftig. Sie strahlte Männlichkeit und Sanftmut gleichermaßen aus.
»Ich bin Frau Peters.«
»Elouan.«
Wie lyrisch weich er seinen ungewöhnlichen Namen aussprach.
»Nennen Sie mich doch bitte Lou.« Dabei schüttelte er ihre Hand. Der Griff war fest, aber nicht so kernig wie bei alten Männern.
Da war dieses vollkommene Gesicht, in das Rebecca eintauchte.
Der Moment dehnte sich. Der Händedruck war eine Sekunde zu lang, genau wie der Blickkontakt. Seine blauen Augen schienen ihre braunen zu durchbohren und für sich einnehmen zu wollen. Den Kampf hatte sie schon jetzt verloren.
Mit einem Male fielen Rebecca die Schüler im Zimmer ein, die auf die Fortsetzung der Unterrichtsstunde warteten. »Komm rein. Such’ dir einen Platz aus«, sagte sie mit gesenktem, hochrotem Kopf. Die Wärme seiner Berührung durchflutete sie noch immer.
Elouan packte seine Unterrichtsutensilien aus und sah sich nach den Mitschülern um. Einen intensiveren Blick widmete er der hübsch anzusehenden Alicia, die er freundlich anlächelte. Dann begann für Rebecca die erste Unterrichtsstunde mit ihrem neuen Schüler.
Kapitel 2
Elouan zog es vor, allein zu sitzen. Abseits von ihm: die übrigen Elftklässler. Der erwachsen wirkende, mysteriöse neue Schüler befremdete sie. Freunde schien der Neuankömmling in der Runde des lustlosen Deutschkurses nicht zu finden. Neuerdings betrat er zusammen mit Alicia den Raum, setzte sich jedoch nicht neben sie. Rebecca interessierte, worüber sie sich austauschten, konnte jedoch nie Wortfetzen auffangen.
Während die Jugendlichen arbeiteten, schaute sie sich im Kurs um und sah, wie Lou zu seiner Mitschülerin schaute. Der Grundkurs bestand fast ausschließlich aus Jungen. Nur vier Mädchen saßen Rebecca gegenüber. Davon zog die leistungsstarke, hübsch anzusehende Alicia die größte Aufmerksamkeit von Elouan auf sich.
In Einzelarbeitsphasen nutzte Rebecca die Gelegenheit, sich Lou aus der Nähe anzusehen. Mit seinen zwanzig Jahren stach er aus der Masse der Jugendlichen deutlich hervor: Sein markantes Kinn mit den robusten schwarzen Bartstoppeln ließ sein Gesicht abgeklärter und reifer wirken als das der anderen Jungs. Mal kam er frisch rasiert in die Schule, mal trug er einen gepflegten Dreitagebart.
Seine blauen Augen lugten des Öfteren von dem Deutschbuch auf und schauten sich im Klassenraum um. Unvermittelt trafen sie auf die von Rebecca. »Frau Peters, könnten Sie bitte zu mir kommen, ich habe eine Frage«, sagte er übertrieben höflich.
»Sicher, was gibt es denn?«
Das aktuelle Thema hob die meisten Jugendlichen nicht sonderlich an, aber Lou schien daran Gefallen zu finden, Reden auseinanderzunehmen.
Inzwischen stand Rebecca an seinem Platz, beugte sich über seine Schulter, um zu schauen, was er ihr zeigen wollte. »Ich komme an dieser Stelle hier nicht weiter. Weizsäcker sagt, nach dem Zweiten Weltkrieg …«
Ihre Augen wanderten zu seinen dunklen, kurzen Haaren, hinab zu dem blauen, eng anliegenden Jeanshemd und von dort nach oben zu seinem Gesicht. Ihr fielen seine tadellos gerade Nase sowie seine leicht geschwungenen Lippen auf. Ihr Verstand wurde zusätzlich durch das maskuline Parfum getrübt, das