Sie öffnet die Tür und steht mit beiden Beinen im Wasser. Die Tische sind wüst durcheinander angeordnet. Nackte und halbnackte Schüler drängen sich in dem Raum, planschen in dem auf dem Boden befindlichen Wasser. Robert liegt auf dem Rücken, während Natalie in Siegerpose über ihm steht und ihm den Fuß auf seine Brust drückt.
Da sind auch Martin und Ellen aus der achten Klasse, die eng beieinander stehen und lachen. Ein Junge aus der elften Klasse hält aufreizend eine Siebtklässlerin im Arm. So viel Wasser unter ihren Füßen. Der Schulhof ist das Meer. An die Außenwand des Gebäudes schlagen hohe Wellen an. Paul steht mit einer Badehose bekleidet am Fenster und will nach draußen springen. »Auf La Reunion gibt es Haie, Paul, das weißt du doch. Schwimm’ nicht zu weit raus!« Doch er hört nicht. Ruckartig springt er vom Fensterbrett des Klassenraums in den Ozean hinein.
Piep Piep Piep Piep Piep Piep. 5:00 Uhr morgens. Rebecca richtete sich schlaftrunken im Bett auf, um den gellenden Apparat auf dem Nachttisch auszuschalten.
Ihr blieb nicht viel Zeit, die wirren Eindrücke im Kopf zu sortieren. Gähnend schleppte sie sich ins Badezimmer, wo die kurze Nachtruhe unaufhörlich ihren Tribut forderte. Unter der Dusche stehend überzog sich ihr Körper mit Gänsehaut. Nur mühsam konnte sie die Augen offenhalten, während Ausschnitte aus dem Traum vorbeizogen.
Als Rebecca das Schlafzimmer wieder betrat, schlummerte Paul friedlich vor sich hin, verbarg jedoch sein Gesicht unter der Bettdecke, als er das eingeschaltete Licht bemerkte. Ein Gefühl der Eifersucht durchflutete Rebecca. Neid auf den Partner, der erst in wenigen Stunden aufstehen musste.
Trotz Schlafdefizit ließ sie keine Hektik zu: Aufstehen, Duschen, Anziehen, eventuell Haare waschen, föhnen, essen, Toilette, Zähne putzen, die mitzunehmenden Schulmaterialien kontrollieren, Tasche einräumen, zum Auto gehen. Das war angesichts der Gewohnheit in weniger als einer Stunde möglich. Außer heute Morgen.
Um nicht zu sehr die Augen zukneifen zu müssen, dimmte Rebecca die Deckenbeleuchtung in der Küche. Schummrig vollzog sie die routinierten Schritte, um halbwegs Normalität nach den zwei Wochen Ferien herzustellen.
6:05 Uhr. Die über zwanzig Kilometer Fahrt zwischen Zuhause und der Arbeitsstelle wurden heute, am ersten Schultag nach den Winterferien, zu einer gedankenverlorenen Angelegenheit. Gelbe und weiße Lichter kamen auf der anderen Straßenseite entgegen. Sie blieben anonym und farblos, die Fahrer hatten kein Gesicht. Helle Lichter fuhren in Ketten vorbei und wurden im Rückspiegel zu roten, kleiner werdenden Punkten. Manchmal überholte ein gelbes Licht und wurde zu zwei roten Punkten vor dem Auto. Bisweilen fuhr eine ganze Kette roter Lichter vor ihr her.
Es war noch immer finster, als Rebecca wie fast jeden Morgen als eine der Ersten auf dem Parkplatz der Schule eintraf. Das nächste routinierte Morgenprogramm wurde durchgezogen: Kopieren, Lochen, E-Mails checken und Klassenbuch kontrollieren. Kopien für die Siebtklässler waren anzufertigen.
Während sie gähnend vor dem Kopierer auf dessen Einsatzbereitschaft wartete, betrat Harald das Lehrerzimmer und begrüßte sie mit einem lang gezogenen »Guten Morgen. Bist ja wieder zeitig heute da.« Erneutes Gähnen.
»Morgen, Harald. Na, hattest du ein paar schöne Ferien?« Das übliche Bla Bla, wenn man sich zwei Wochen nicht gesehen hatte.
Harald gehörte zu Rebeccas engerem Freundeskreis im Kollegium, unterrichtete genau wie sie Deutsch. Seine schlohweißen Haare glänzten in der morgendlichen Beleuchtung des Lehrerzimmers.
»Angela und ich waren zu Hause. Ich habe ein paar Arbeiten kontrolliert und mich erholt. Nichts Aufregendes.«
Im Gegensatz zu ihm war Gelassenheit für Rebecca zum Fremdwort geworden. Was auf Arbeit passierte, musste mit nach Hause genommen und ausladend erörtert werden, selbst wenn es nichts mehr zu ändern gab. Wenn sie im gleichen Tempo wie bisher weiterarbeitete, würde ein Herzinfarkt unausweichlich sein. Dass sie noch über dreißig Jahre arbeiten gehen musste, erzeugte einen Widerwillen in ihr, der ihr Angst bereitete.
»Hast du einen anstrengenden Tag vor dir? Wirkst genervt«, stellte Harald fest.
»Hm«, brummte Rebecca vor sich hin. »Freue mich auf das Mittagessen.«
Ihre Mundwinkel zogen sich nach oben und ein gekünsteltes Grinsen blieb zurück. Der Blick musste gequält aussehen, denn Harald sagte: »Das wird schon« und klopfte ihr ermutigend auf die Schulter.
Wenn es bloß mit ein paar motivierenden Worten getan wäre! Davon wurde ihre seit Jahren bestehende Unfähigkeit, Kinder vernünftig zu verstehen, nicht behoben. Heute waren es »bloß« die Siebtklässler, bei denen Rebecca gleich Deutsch unterrichten würde. Mehr noch graute ihr vor ihrer eigenen unberechenbaren achten Klasse.
Wenn sie an den langweiligen Grundkurs in Deutsch dachte, besserte sich ihre Laune ebenfalls nicht. Dabei sollte er das Herzstück ihres Unterrichtsalltags werden: Als sie vor den Sommerferien erfahren hatte, dass sie zum ersten Mal in ihrer Berufslaufbahn einen Kurs bekommen würde, kannte die Freude darüber keine Grenzen: Endlich ruhiger Unterricht, motivierte Schüler, anregende Diskussionen über literarische Texte.
Doch dann das: schleppender Unterricht, fehlende Mitarbeit. Man konnte nicht behaupten, dass die zwölf Schüler störten, im Gegenteil. Sie bearbeiteten, was man ihnen auftrug. Sie lasen, wenn sie lesen sollten, sie schrieben, wenn sie schreiben sollten. Aber sie redeten nicht.
So in Gedanken versunken, hätte Rebecca beinah einen neuen Zettel übersehen, der am Schwarzen Brett des Lehrerzimmers aushing. Der Oberstufenberater hatte ihn vermutlich kurz vor den Ferien ausgehängt und am oberen rechten Rand mit einem roten Stift eine Art Blitz darauf gemalt. Unter dem in Großbuchstaben geschriebenen Namen ELOUAN KLAGE erkannte sie seinen Stundenplan.
»Ist das ein neuer Schüler?« Harald rückte seine Brille auf der Nase zurecht und betrachtete eingehend das Geschriebene.
»Nein, ich kenne …«, redete er langsam vor sich hin. »Elouan war schon einmal vor einigen Jahren bei uns. Ich kann dir beim Essen mehr über ihn erzählen,