Es schneite immer noch leicht, als sie sich auf den Weg ins Sekretariat begab. An den Fenstern des Schulgebäudes perlten die Tropfen ab. Das trostlose Wetter und die trist auf der Straße fahrenden Autos, die wie graue Mäuse über den Asphalt huschten, spiegelten ihre eigene desolate Gefühlslage wider.
Rebecca klopfte an die Tür zum Sekretariat an und trat ein. »Frau Schneider, Sie haben mir einen Zettel ins Fach gelegt. Ich möchte den Anruf gleich erledigen.« Die Sekretärin nickte und wies ihr den Platz gegenüber ihres Schreibtisches zu. Nach der Übergabe des Telefons wählte Rebecca die Nummer. Es klingelte, aber niemand hob ab. »Komisch. Eigentlich müsste sie zu Hause sein. Ich warte kurz und versuche es dann noch mal.«
Sie fiel in den Stuhl zurück, dessen weiche Lehne sich an ihren Rücken anschmiegte. Für einen kurzen Moment der Ruhe stützte sie den Ellenbogen auf dem Tisch ab und legte eine Hand an die Wange.
Die Sekretärin hatte sich inzwischen dem Computer zugewandt und begann damit, etwas einzutippen. Die Zeit strich dahin und Rebecca richtete ihren Blick abermals aus dem Fenster hinaus, wo sie noch immer das grau-graue Winterwetter vorfand.
Sie zuckte zusammen, als ein lautes Öffnen der Tür hinter ihr ertönte. Schulleiter Tannenberger trat mit einem Mann, einer Frau und einem Jugendlichen heraus. »Also, wenn etwas sein sollte, Sie können sich jederzeit bei mir melden, wir finden einen Termin«, sagte der Direktor in freundlichem Tonfall und gab den Dreien förmlich die Hand. Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht, als er Rebecca erblickte.
Sie schaute zu den drei aus dem Büro heraustretenden Personen, die sich am Tresen des Sekretariats befanden und im Begriff waren, den Raum zu verlassen.
Nur flüchtig streifte Rebecca der Blick des etwa zwanzigjährigen Mannes. Er griff in seine dunkelbraunen, fast schwarzen Haare und sah zu Boden, wirkte angespannt.
In dem kurzen Moment, in dem sie sein ebenmäßiges Gesicht wahrnahm, durchfuhr sie eine ungeahnte Sehnsucht, dieses näher zu ergründen. Auch sein Body wirkte wenig jungenhaft. Unter dem schwarzen Pullover zeichnete sich ein gut trainierter Körper ab. Als die Familie das Sekretariat verließ, erwischte sich Rebecca dabei, dem jungen Mann auf den Hintern zu starren, der sich unter der eng anliegenden Hose abzeichnete.
»Frau Peters, wollen Sie zu mir?«, fragte der Schulleiter, der noch immer im Türrahmen stand. Rebecca drehte sich ruckartig zu ihm herum.
»Wie bitte?«
Er lachte auf. »Ich dachte, Sie wollen zu mir, weil Sie hier warten.«
»Nein, ich muss jemanden anrufen«, erwiderte sie knapp.
»Ach so.« Tannenberger verschwand, die Tür hinter sich zuschlagend, in seinem Büro.
»Sagen Sie, Frau Schneider: Kennen Sie die Familie, die eben beim Schulleiter war? Ich habe die Leute noch nie vorher gesehen.« Die Sekretärin schaute im Terminkalender des Direktors nach.
»Familie Klage«, meinte sie, ohne vom Kalender aufzublicken. »Ihr Sohn Elouan wird ab morgen hier zur Schule gehen.«
Rebecca musste bei der Vorstellung, ihrem zukünftigen Schüler ungeniert auf den Po gestarrt zu haben, schmunzeln.
Dann griff sie zum Telefonhörer und wählte erneut. Ohne Erfolg. Das hieß eine Überstunde mehr für heute Nachmittag.
Nach dem Unterricht in Klasse 10 stand Rebecca gedankenverloren am Fenster und starrte in den Schulhof hinab, in dem sich die Schüler trotz der winterlichen Kälte tummelten. Der Wind hatte aufgefrischt und es schneite kräftiger. Die bunten Gestalten auf dem Hof trotzten der Kälte, warfen sich Schneebälle ins Gesicht und seiften sich gegenseitig ein.
Die große Buche, die Rebecca vom Fenster aus sah, wirkte wie ein tausende Jahre altes Bollwerk inmitten der ständig wechselnden Jahreszeiten und Gesichter, auf die sie Tag für Tag, Jahr ein Jahr aus herabblickte. Sie würde die Zeiten überdauern und in hundert Jahren noch behütend über den Kindern wachen.
Aber Gott, was war das für ein Tag! Das war nur einer von vielen! Wo würde sie in verdammten zehn, zwanzig oder mehr Jahren stehen? Würde sie endlich die Lehrerin sein, die sie sein wollte – respektiert und geachtet? Würden die Korrekturen weniger werden? Würde sie mehr Freizeit haben?
Während sie noch darüber nachdachte, leerte sich der Schulhof zum Ende der Pause. Rebecca griff nach ihrer schwarzen Schultasche, holte die Jacke aus dem Lehrerzimmer und ging in Richtung Mensa. Schreiende, aufgeregte Scharen von Pubertierenden kreuzten ihren Weg.
Harald saß schon am Tisch, als Rebecca eintraf. Er hatte einen Teller Nudeln mit Tomatensoße und Wurststückchen vor sich stehen und kaute langsam auf ihnen herum.
»Und wie war dein erster Tag?«, wollte Harald wissen, als sie sich hinsetzte.
Rebecca atmete tief durch. »Ging. Die Siebener haben erwartungsgemäß gestört. Morgen habe ich die Elfer, da ist es ruhiger«, sagte sie leicht lächelnd und schob sich einen Happen Nudeln in den Mund.
Ihr war bewusst, dass die Oberstufenschüler ihre Ruhe haben wollten und daher nicht störten. »Ach siehst du, da fällt mir ein: Ich habe doch einen neuen Schüler bei mir im Kurs sitzen: Elouan Klage. Er und seine Eltern waren heute beim Schulleiter. Ich war zufällig im Sekretariat und habe sie gesehen. Du sagtest doch, du würdest ihn kennen.«
Der ältere Mann räusperte sich, machte eine kleine Kunstpause. »Elouan Klage war schon einmal bei uns.«
»War er ein Jahr im Ausland und kommt jetzt wieder oder was?«
Wieder ein Räuspern. Er legte die Gabel beiseite, beugte sich leicht nach vorn und sagte dann bestimmt: »Nein, Elouan war vor …«, überlegte er, »drei oder vier Jahren bei uns an der Schule. Ich glaube Mitte der elften Klasse war er plötzlich weg. Von der damaligen Klassenlehrerin erfuhren wir, dass der Junge psychische Probleme hatte und daher in eine Nervenheilanstalt gekommen war. Müsste in den Unterlagen noch alles zu finden sein.«