Rebeccas Schüler. Tira Beige. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tira Beige
Издательство: Bookwire
Серия: Rebeccas Schüler
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752924428
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hat­te Mar­tin mas­si­ve Pro­ble­me da­mit, sich an Re­geln und Ab­spra­chen zu hal­ten. Er kom­men­tier­te per­ma­nent die Ent­schei­dun­gen der Lehr­kraft, stör­te, misch­te den Un­ter­richt und sei­ne Mit­schü­ler auf oder sorg­te in den Pau­sen für laut­star­ke Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit sei­nen Klas­sen­ka­me­ra­den. An ein ru­hi­ges Ar­bei­ten mit ihm im Un­ter­richt war nicht zu den­ken. Re­bec­ca wünsch­te sich, dass er die Schu­le am Schul­jah­res­en­de ver­ließ und sie ihn nie mehr wie­der­se­hen muss­te.

      Es schnei­te im­mer noch leicht, als sie sich auf den Weg ins Se­kre­ta­ri­at be­gab. An den Fens­tern des Schul­ge­bäu­des perl­ten die Trop­fen ab. Das trost­lo­se Wet­ter und die trist auf der Stra­ße fah­ren­den Au­tos, die wie graue Mäu­se über den As­phalt husch­ten, spie­gel­ten ihre ei­ge­ne de­so­la­te Ge­fühl­sla­ge wi­der.

      Re­bec­ca klopf­te an die Tür zum Se­kre­ta­ri­at an und trat ein. »Frau Schnei­der, Sie ha­ben mir einen Zet­tel ins Fach ge­legt. Ich möch­te den An­ruf gleich er­le­di­gen.« Die Se­kre­tä­rin nick­te und wies ihr den Platz ge­gen­über ih­res Schreib­ti­sches zu. Nach der Über­g­a­be des Te­le­fons wähl­te Re­bec­ca die Num­mer. Es klin­gel­te, aber nie­mand hob ab. »Ko­misch. Ei­gent­lich müss­te sie zu Hau­se sein. Ich war­te kurz und ver­su­che es dann noch mal.«

      Sie fiel in den Stuhl zu­rück, des­sen wei­che Leh­ne sich an ih­ren Rü­cken an­schmieg­te. Für einen kur­z­en Mo­ment der Ruhe stütz­te sie den El­len­bo­gen auf dem Tisch ab und leg­te eine Hand an die Wan­ge.

      Die Se­kre­tä­rin hat­te sich in­zwi­schen dem Com­pu­ter zu­ge­wandt und be­gann da­mit, et­was ein­zu­tip­pen. Die Zeit strich da­hin und Re­bec­ca rich­te­te ih­ren Blick aber­mals aus dem Fens­ter hin­aus, wo sie noch im­mer das grau-graue Win­ter­wet­ter vor­fand.

      Sie zuck­te zu­sam­men, als ein lau­tes Öff­nen der Tür hin­ter ihr er­tön­te. Schul­lei­ter Tan­nen­ber­ger trat mit ei­nem Mann, ei­ner Frau und ei­nem Ju­gend­li­chen her­aus. »Also, wenn et­was sein soll­te, Sie kön­nen sich je­der­zeit bei mir mel­den, wir fin­den einen Ter­min«, sag­te der Di­rek­tor in freund­li­chem Ton­fall und gab den Drei­en förm­lich die Hand. Ein klei­nes Lä­cheln husch­te über sein Ge­sicht, als er Re­bec­ca er­blick­te.

      Sie schau­te zu den drei aus dem Büro her­aus­tre­ten­den Per­so­nen, die sich am Tre­sen des Se­kre­ta­ri­ats be­fan­den und im Be­griff wa­ren, den Raum zu ver­las­sen.

      Nur flüch­tig streif­te Re­bec­ca der Blick des etwa zwan­zig­jäh­ri­gen Man­nes. Er griff in sei­ne dun­kel­brau­nen, fast schwa­r­zen Haa­re und sah zu Bo­den, wirk­te an­ge­spannt.

      In dem kur­z­en Mo­ment, in dem sie sein eben­mä­ßi­ges Ge­sicht wahr­nahm, durch­fuhr sie eine un­ge­ahn­te Sehn­sucht, die­ses nä­her zu er­grün­den. Auch sein Body wirk­te we­nig jun­gen­haft. Un­ter dem schwa­r­zen Pull­over zeich­ne­te sich ein gut trai­nier­ter Kör­per ab. Als die Fa­mi­lie das Se­kre­ta­ri­at ver­ließ, er­wi­sch­te sich Re­bec­ca da­bei, dem jun­gen Mann auf den Hin­tern zu star­ren, der sich un­ter der eng an­lie­gen­den Hose ab­zeich­ne­te.

      »Frau Pe­ters, wol­len Sie zu mir?«, frag­te der Schul­lei­ter, der noch im­mer im Tür­rah­men stand. Re­bec­ca dreh­te sich ruck­ar­tig zu ihm her­um.

      »Wie bit­te?«

      Er lach­te auf. »Ich dach­te, Sie wol­len zu mir, weil Sie hier war­ten.«

      »Nein, ich muss je­man­den an­ru­fen«, er­wi­der­te sie knapp.

      »Ach so.« Tan­nen­ber­ger ver­schwand, die Tür hin­ter sich zu­schla­gend, in sei­nem Büro.

      »Sa­gen Sie, Frau Schnei­der: Ken­nen Sie die Fa­mi­lie, die eben beim Schul­lei­ter war? Ich habe die Leu­te noch nie vor­her ge­se­hen.« Die Se­kre­tä­rin schau­te im Ter­min­ka­len­der des Di­rek­tors nach.

      »Fa­mi­lie Kla­ge«, mein­te sie, ohne vom Ka­len­der auf­zu­bli­cken. »Ihr Sohn Elou­an wird ab mor­gen hier zur Schu­le ge­hen.«

      Re­bec­ca muss­te bei der Vor­stel­lung, ih­rem zu­künf­ti­gen Schü­ler un­ge­ni­ert auf den Po ge­st­arrt zu ha­ben, schmun­zeln.

      Dann griff sie zum Te­le­fon­hö­rer und wähl­te er­neut. Ohne Er­folg. Das hieß eine Über­stun­de mehr für heu­te Nach­mit­tag.

      Nach dem Un­ter­richt in Klas­se 10 stand Re­bec­ca ge­dan­ken­ver­lo­ren am Fens­ter und starr­te in den Schul­hof hin­ab, in dem sich die Schü­ler trotz der win­ter­li­chen Käl­te tum­mel­ten. Der Wind hat­te auf­ge­frischt und es schnei­te kräf­ti­ger. Die bun­ten Ge­stal­ten auf dem Hof trotz­ten der Käl­te, wa­r­fen sich Schnee­bäl­le ins Ge­sicht und seif­ten sich ge­gen­sei­tig ein.

      Die gro­ße Bu­che, die Re­bec­ca vom Fens­ter aus sah, wirk­te wie ein tau­sen­de Jah­re al­tes Boll­werk in­mit­ten der stän­dig wech­seln­den Jah­res­zei­ten und Ge­sich­ter, auf die sie Tag für Tag, Jahr ein Jahr aus her­abblick­te. Sie wür­de die Zei­ten über­dau­ern und in hun­dert Jah­ren noch be­hü­tend über den Kin­dern wa­chen.

      Aber Gott, was war das für ein Tag! Das war nur ei­ner von vie­len! Wo wür­de sie in ver­damm­ten zehn, zwan­zig oder mehr Jah­ren ste­hen? Wür­de sie end­lich die Leh­re­rin sein, die sie sein woll­te – re­spek­tiert und ge­ach­tet? Wür­den die Kor­rek­tu­ren we­ni­ger wer­den? Wür­de sie mehr Frei­zeit ha­ben?

      Wäh­rend sie noch dar­über nach­dach­te, leer­te sich der Schul­hof zum Ende der Pau­se. Re­bec­ca griff nach ih­rer schwa­r­zen Schul­ta­sche, hol­te die Ja­cke aus dem Leh­rer­zim­mer und ging in Rich­tung Men­sa. Schrei­en­de, auf­ge­reg­te Scha­ren von Pu­ber­tie­ren­den kreuz­ten ih­ren Weg.

      Ha­rald saß schon am Tisch, als Re­bec­ca ein­traf. Er hat­te einen Tel­ler Nu­deln mit To­ma­ten­so­ße und Wurst­stü­ck­chen vor sich ste­hen und kau­te lang­sam auf ih­nen her­um.

      »Und wie war dein ers­ter Tag?«, woll­te Ha­rald wis­sen, als sie sich hin­setz­te.

      Re­bec­ca at­me­te tief durch. »Ging. Die Sie­be­ner ha­ben er­war­tungs­ge­mäß ge­stört. Mor­gen habe ich die El­fer, da ist es ru­hi­ger«, sag­te sie leicht lä­chelnd und schob sich einen Hap­pen Nu­deln in den Mund.

      Ihr war be­wusst, dass die Ober­stu­fen­schü­ler ihre Ruhe ha­ben woll­ten und da­her nicht stör­ten. »Ach siehst du, da fällt mir ein: Ich habe doch einen neu­en Schü­ler bei mir im Kurs sit­zen: Elou­an Kla­ge. Er und sei­ne El­tern wa­ren heu­te beim Schul­lei­ter. Ich war zu­fäl­lig im Se­kre­ta­ri­at und habe sie ge­se­hen. Du sag­test doch, du wür­dest ihn ken­nen.«

      Der äl­te­re Mann räus­per­te sich, mach­te eine klei­ne Kunst­pau­se. »Elou­an Kla­ge war schon ein­mal bei uns.«

      »War er ein Jahr im Aus­land und kommt jetzt wie­der oder was?«

      Wie­der ein Räus­pern. Er leg­te die Ga­bel bei­sei­te, beug­te sich leicht nach vorn und sag­te dann be­stimmt: »Nein, Elou­an war vor …«, über­leg­te er, »drei oder vier Jah­ren bei uns an der Schu­le. Ich glau­be Mit­te der elf­ten Klas­se war er plötz­lich weg. Von der da­ma­li­gen Klas­sen­leh­re­rin er­fuh­ren wir, dass der Jun­ge psy­chi­sche Pro­ble­me hat­te und da­her in eine Ner­ven­heil­an­stalt ge­kom­men war. Müss­te in den Un­ter­la­gen noch al­les zu fin­den sein.«