Er sah niemanden.
Unter einem der Fenster glitzerte etwas. Gehweiler schlich näher. Unter seinen Schuhsohlen knisterte es. Es war das Glas der Fensterscheibe, bis zu der er sich vorgewagt hatte. Seine Wahrnehmung war also realistisch gewesen. Nun wusste er: In dem Haus befand sich jemand, der durch dieses Fenster eingestiegen war. Er dachte daran, dass Müller auf der anderen Seite des Hauses eine Flucht des Täters -hoffentlich- vereiteln konnte.
Gehweiler schlich näher und sah durch das Fenster in das Innere des Hauses. Er konnte nichts erkennen, hörte aber Geräusche, die aus einem anderen Raum kamen, als dem, dessen Fenster eingeschlagen war.
Er sah sich um und bemerkte in einiger Entfernung, angelehnt an einen Holzstoß, eine Kiste stehen, die er für sein Vorhaben als geeignet ansah. Kurze Zeit später stand er auf ihr, die unter seinem Gewicht nachgab und zu zerbrechen drohte. Fast geräuschlos stieg er in das Haus ein, die Pistole in der rechten, die ausgeschaltete Taschenlampe in der linken Hand.
Gehweiler sah sich um und sah, dass er sich in einem Schlafraum befand. Es roch modrig. Die Wände waren feucht, wie der durch den Strahl seiner Taschenlampe feststellen konnte. Verschimmelte Tapetenreste hingen von den Wänden. Ein altes nahezu verfallenes Bett stand an der Wand, leere Umzugskisten stapelten sich mitten im Raum. Alles offensichtlich Dinge, die der letzte Eigentümer zurückgelassen hatte.
Gehweiler schlich auf die Tür zu, hinter der er den Eindringling vermutete. Er wollte alles auf eine Karte setzen und mit Gewalt das Zimmer stürmen. Müller würde die Geräusche hier drinnen hören und zu Hilfe kommen.
Er atmete tief durch, nahm kurz Anlauf und trat mit voller Kraft mit dem gestreckten Bein gegen die Tür. Holz barst und die Tür flog bis zum Anschlag auf. Bevor sie zurückfederte, war Gehweiler mit dem Ruf Keine Bewegung, Polizei! in den Raum gesprungen, mit der Pistole und der darunter befindlichen Taschenlampe in alle Richtungen sichernd.
Das Zimmer war leer. Gehweiler hielt inne und lauschte in die Stille hinein.
Dann klirrte erneut Glas, es folgten ein klatschendes Geräusch und ein Schrei. Gehweiler rannte durch das Zimmer, das in einen Flur mündete. Er sah sofort das zerschlagene Fenster und schaute vorsichtig nach draußen.
„Alles in Ordnung“, rief ihm Müller entgegen und Gehweiler wunderte sich, dass sein Kollege auf dem Boden saß. Als er näher hinsah, erkannte er die Ursache. Müller hockte auf einer auf dem Bauch liegenden Person und hatte ihm mit Handschellen die Hände auf dem Rücken gefesselt.
„Wenn du Zeit hast, kannst du mir helfen.“
Die Bemerkung Müllers schmerzte in seinen Ohren. Zwar war er froh darüber, dass der Eindringling gefasst war, andererseits hatte er sich die Festnahme doch etwas anders vorgestellt. Dass der junge Kollege es ohne sein Zutun geschafft hatte, wurmte ihn etwas.
„Das war Teamarbeit“, sagte Müller, als Gehweiler neben ihm stand und sie die Person auf die Beine stellten. „Wie bei einer Treibjagd. Wir sollten öfters zusammenarbeiten.“
Es klingt ehrlich, stellte Gehweiler erstaunt fest. Irgendwie zerfiel sein anfänglicher Ärger und er wandte sich der festgenommenen Person zu, die das Gesicht zu Boden geneigt hatte.
„Sehen Sie mich an!“, fuhr er die Person an, die langsam ihr Gesicht hob und ihm verächtlich in die Augen sah. Es war ein junger Mann, Gehweiler schätzte ihn auf höchstens zwanzig Jahre. Er trug wollene Handschuhe. Die Kapuze seines dunklen Sportpullovers hatte er immer noch über seinen Kopf gezogen. Gehweiler fasste die Spitze der Kopfbedeckung und zog sie nach hinten. Dichtes volles dunkles Haar quoll hervor.
„Sieh nach, ob er Papiere dabei hat“, gab er Anweisung an Müller. Der durchsuchte ihn und förderte eine Packung Zigaretten, ein Einwegfeuerzeug und ein Schlüsselbund zutage.
„Keine Papiere“, stellte Müller nüchtern fest.
„Ihr Name?“ Gehweiler senkte den Kopf und wartete, die Augen auf den jungen Mann gerichtet.
Es kam keine Reaktion außer der, dass der Festgenommene wieder zu Boden sah.
„Aha, so läuft das also“, sagte Gehweiler und nickte mehrmals, als habe er irgendetwas verstanden, das man ihm gerade erklärt hatte. Dann wandte er sich zu Müller.
„Ruf bitte die Spurensicherung und verständige Kollegin Schiffmann …“
„Nicht Overbeck?“
„Ja, oder den. Wen von beiden du gerade erreichen kannst. Sag ihnen, es könne sein, dass wir den Baseball-Mörder gefasst haben.“
Müllers Kinn sank nach unten und er sah Gehweiler mit weit aufgerissenen Augen erstaunt und irritiert an. Bevor er etwas sagen konnte, das nicht für die Ohren des Festgenommenen bestimmt war, hakte Gehweiler nach.
„Nun mach schon! Erkläre ihnen, was heute Abend hier geschehen ist. Sag ihnen, die Spurensuche werde benötigt. Anschließend sollen sie zur Dienststelle kommen. Wir werden unseren Freund hier solange einbunkern.“
Den jungen Mann hatte der Wortwechsel offensichtlich wachgerüttelt, denn hektisch sah er von einem zum anderen und rote Flecken zeigte sich in seinem Gesicht.
„Was sagen Sie da?“, stotterte er und Gehweiler bemerkte, wie er zu zittern begann. „Was soll ich sein? Ein Mörder? Sie irren sich. Ich habe niemanden umgebracht. Warum sollte ich jemanden umbringen?“
Gehweiler winkte ab. „Sparen Sie sich Ihren Atem für später“, sagte er, während er zu Müller hinübersah, der offensichtlich Probleme hatte, Overbeck oder Leni zu erreichen. Es war am Abend, es gab nur den Weg über die private Handy-Leitung.
„Wenn du niemanden erreichen kannst, ruf beim Präsidium an. Die sollen dann jemanden schicken“, rief er Müller zu. Der winkte ab und begann sogleich zu sprechen. Gehweiler hörte nicht, was er sagte und mit wem er sprach. Er wandte sich wieder dem jungen Mann zu.
„Sie können alles der Kripo erklären. Sie wird bald hier sein, auf unserer Dienststelle, meine ich.“
„Ich habe nichts getan. Ich wollte doch nur …“
Gehweiler winkte ab. „Später.“
Müller kam auf sie zu. Das Handy hielt er noch in seiner Hand. „Ich habe Leni erreicht. Sie wird kommen. Overbeck auch. Und die Spurensicherung. Wir sollen auf der Dienststelle auf sie warten.“
Kapitel 22
„Was wir heute hier veranstalten ist ein reines Probetraining. Es kostet Sie nichts, ist völlig unverbindlich und Sie haben anschließend die Möglichkeit, zu entscheiden: Weitermachen oder feststellen, dass vielleicht eine andere Sportart für Sie geeigneter sein wird.“
Overbeck kniete im weißen Karateki und schwarzem Gürtel vor der Gruppe, die er in die kniende Haltung gebeten hatte. Eine Matte gab es keine und auf die Frage einer jungen Frau, wann man denn auf den weichen Unterlagen üben wollte, musste er ihr lächelnd mitteilen, dass dies vorerst nicht der Fall sein würde.
„Im Karate brauchen wir das nicht“, sagte er. „Später, wenn Sie sich entscheiden, sich auch in Aikido oder in-Jitsu oder beidem ausbilden zu lassen, dann werden auch Matten zum Einsatz kommen. Also eines nach dem anderen.“
Dann gab er einen Überblick auf das, was diejenigen erwartete, wenn die denn weitermachten.
„Sie werden üben müssen, bis jede Technik sitzt, jeder Handgriff. Alles muss in Fleisch und Blut übergehen. Deshalb werden wir die ersten Angriffs- und Abwehrtechniken in der Gruppe und in der Bewegung ausführen. Dazu gibt es Kommandos von mir, damit die Techniken gemeinsam ausgeführt werden können.“
Er sah, wie sich zwei junge Männer mit skeptischen Blicken ansahen.
„Ich weiß, was Sie denken“, rief ihnen Overbeck zu. „Vergessen Sie Ihre Bedenken. Es ist kein militärischer Drill. Es ist einfach die Art und Weise des Trainings, wie sie