Wenn Wolken Wandern. Carsten Freytag. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carsten Freytag
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750214187
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Mama eines Abends in mein Zimmer. Von Anklopfen hielt sie wenig. Vom Ocampo-Anfall sichtlich erholt, stürzte sich meine Mama auf mich, so überraschend schnell, dass ich keine Chance hatte, meine Hände als Zeichen der Gegenliebe hochzureißen, und demonstrierte erneut ihre aufopferungsvolle Liebe für mich, indem sie meine Wangen nicht mit Küssen, sondern mit harten Schlägen liebkoste. Sie wählte Tagalog, wie immer, wenn es etwas Unangenehmes zu berichten gab.

      „Was soll mal aus dir werden, Geraldine? Sag es mir! Deine Lehrerein hat mich angerufen“, schrie meine Mama mir ins Gesicht, so nah, dass ich eine unerwartet angenehme Nässe in meinem Gesicht spürte, bevor sie mit weiteren Liebkosungen meine bereits rot angelaufenen Wangen zum Brennen brachte, dass ich aus Freude vor so viel Liebesbekundungen zu weinen begann. Und ich hoffte zugleich, während ich verzweifelt versuchte, den Grund für ihre Wut zu erahnen, dass mein Wimmern meine Mama milde stimmen müsste.

      „Frau Meyer hat mir mitgeteilt, dass du vier Tage hintereinander unentschuldigt gefehlt hast. Was machst du während der Schulzeit? Kannst du mir das mal erklären?“

      Meiner Mama die Wahrheit zu sagen, hätte wohl weitere schmerzhafte Zeichen ihrer Liebe zur Folge gehabt. Hätte ich ihr sagen sollen, dass ich keinen Bock mehr auf Schule hatte? Keinen Bock auf Mathematik. Keinen Bock auf Physik und Chemie. Wozu brauchte ich all das? Ich hatte keinen Bock mehr auf Frau Meyer, die mich in ihrem Deutschunterricht ständig zum Lesen motivieren wollte, indem ich immer als erste irgendwelche Seiten aus dem Roman „Sansibar oder der letzte Grund“ vorlesen sollte, wo ein Pfarrer die Holzfigur „Den lesenden Klosterschüler“ vor den Nazis retten wollte. Dabei wusste doch Frau Meyer, dass ich keine Lust hatte, vor der Klasse zu lesen, und dennoch forderte sie mich ständig auf: „Geraldine, fängst du bitte an zu lesen“, „Geraldine, lies doch bitte die nächsten beiden Seiten“, „Geraldine, noch drei Abschnitte. Komm, das schaffst du“, während die anderen Schüler schon lange vorher zu kichern begannen, weil sie wussten, wie sehr ich das Vorlesen hasste.

      Dabei las ich zu Hause sehr gerne, zumal ich beim Lesen nicht nur die quälende Einsamkeit in der Familie überwinden konnte, sondern mich in den Romanen tatsächlich wiederfand. Es gab Romane, die mich berührten. Die Mutprobe in dem Roman „Die Vorstadtkrokodile“ fand ich interessant, weil sie mich an meine Mutprobe erinnerte, nur mit dem Unterschied, dass Hannes als Zeichen seines Mutes nur auf das Dach einer Ziegelei steigen und nicht einen Kaschmirpullover klauen musste. Ein anderes Mal, als die Kinder des Mannes im Haus wieder einmal mit ihrem Vater im Wohnzimmer oder im Garten wild herumtobten und ich verloren auf meinem Bett lag, fühlte ich mit Schocker, der von seiner Mutter nicht geliebt wurde. Vielleicht konnte seine Mama auch keine Gefühle zeigen. „Du hast mich nicht lieb“, hatte Schocker zu seiner Mama gesagt und für einen Augenblick musste ich „Die große Flatter“ zur Seite legen, weil Tränen meine Augen verklebten. Wenn es eine Person in dem Roman gab, die ich am meisten mochte, dann war es Richy. Richy erging es so wie mir. Nur wurde er nicht von seiner Mama, sondern von seinem Vater verprügelt. Und Richy wartete nur darauf, größer und stärker zu werden, um es seinem Vater irgendwann heimzuzahlen. Richy ließ sich nichts gefallen. Wenn einer blöd kam, gab es was auf die Fresse. Für Richy war Schule genauso eine Zeitverschwendung wie für mich, nur dass er häufiger blau machte als ich. „Scheiß auf die Schule“ sagte Richy und ich fühlte mich so verstanden. Richy war cool. Der Überfall auf den Juwelier allerdings war dumm. Den Juwelier mit einem Teleskop-Schlagstock totzuschlagen, war noch dümmer. Nein, das hätte ich besser geplant. Schocker war total uncool. Als Schocker und Richy im Kaufhaus etwas klauen wollten, versagten seine Nerven. Was für ein Versager. Auf jeden Fall, das war mir klar, würde ich auch irgendwann die Flatter machen. Weg von meiner Mama und von der ganzen Familie, die mich nicht vermissen würde.

      Und weil ich wie Richy Schule hasste, hatte ich mir einen genialen Trick ausgedacht. Ich verließ das Haus wie immer gegen 7 Uhr, wartete in der nahegelegenen Bäckerei, bestellte dort eine heiße Schokolade bei der netten, aber neugierigen Verkäuferin, die mich stets verwundert anschaute, weil ich schon wieder den Bus verpasst hatte, der mich zur Schule bringen sollte. Ich setzte mich in die hinterste Ecke der Bäckerei, spielte mit meinem Handy so lange, während ich den Kakao trank, bis ich mir sicher war, dass alle aus dem Haus waren und kehrte dann zurück. Ich legte mich dann wieder ins Bett, hörte später Musik oder schaute fern. Gegen Mittag verließ ich dann erneut das Haus mit meiner Schultasche, bummelte ein wenig durch die Altstadt, bis es Zeit wurde, laut Stundenplan nach Hause zu kommen. Es war ein perfekter Plan, bis Frau Meyer aufgrund ihrer vollkommen übertriebenen Fürsorgepflicht bei meiner Mama schon nach vier Tagen überraschend schnell angerufen hatte. Nun musste eine Ausrede her, unter Druck erzeugt, die meine Mama beruhigte, nicht weil sie sich besondere Sorgen um mich machte, sondern weil sie besorgt war, die Rolle der besorgten Mutter bei der Klassenlehrerin nicht überzeugend genug rüberzubringen.

      „Ich war bei Monika im Krankenhaus“.

      „Im Krankenhaus? Was machst du im Krankenhaus, Geraldine? Sag mir das mal. Und lüg mich nicht an, sonst prügele ich dich windelweich.“

      „Monika ist eine meiner besten Freundinnen. Sie liegt mit Krebs im Krankenhaus. Vielleicht wird sie sterben. Sie hatte mich angerufen und mich gebeten, bei ihr vorbeizukommen. Jeden Tag, weil sie jeden Tag Angst hatte, zu sterben. Verstehst du das denn nicht?“

      Meine Mama war verstummt. Ein gutes Zeichen. Sie überlegte wohl, was sie von dieser Aussage halten soll. Ein Anruf bei meiner Klassenlehrerin würde ergeben, dass eine meiner besten Freundinnen tatsächlich schon seit zwei Wochen unentschuldigt fehlte. Aber nicht, weil sie Krebs hatte, sondern weil Monika genauso allergisch auf Schule reagierte wie ich. Mamas Verstummen betrachtete ich als einen Sieg, und weil ich mich plötzlich überlegen fühlte, ging ich ein großes Wagnis ein.

      „Ruf doch meine Klassenlehrerin ein. Komm, mach schon. Sie wird dir bestätigen, dass Monika schon lange fehlt.“

      Meine Mama schaute mich für eine Weile an, prüfte meinen Blick, in dem sie meine große Sorge um Monika entdeckte, und entschied nach einer kurzen Zeit der Prüfung, dass es ein aus menschlicher Sicht durchaus ehrbares Motiv gewesen war, die Schule zu schwänzen, um der sterbenskranken Freundin Beistand zu leisten. Ein Verhalten, dass meine Mama bei mir nicht erwartet hätte. Sie verließ nachdenklich mein Zimmer ohne weitere Worte. Triumphierend setzte ich mich auf meinen Stuhl vor dem Spiegel und kämmte mir ausgiebig und lustvoll mein langes Haar, das so wunderschön glänzte und auf das ich so stolz war, das nun nach unten fiel, während ich meinen Kopf nach vorne beugte. Vielleicht würde mir ein Dutt gutstehen. Monika und Ute hatten in der Schule immer ihr Haar aufgesteckt. Mit der linken Hand mein langes Haar am Kopf festhaltend, ergriff ich mit der Rechten das Haarband auf meinem Tisch, richtete mich wieder auf und wickelte mit zwei Umdrehungen das Haarband um mein Haar. Ich befestigte das nun aufrechtstehende Haar mit einer Haarnadel und betrachtete das Ergebnis meines ersten Versuchs im Spiegel. Es konnte sich sehen lassen. Ich hatte den Eindruck, älter auszusehen. Reifer. Erfahrener. Erwachsen. Mit dem Makeup, das ich nun gleichmäßig in meinem Gesicht verrieb, fühlte ich mich wie achtzehn, mit den falschen Wimpern und dem Lidschatten, den ich vorsichtig auftrug, wie zwanzig, mit einer Parfümwolke von L’ARISÈ 119 umgeben, hatte ich das Gefühl, das Alter erreicht zu haben, um endlich aus diesem Haus zu verschwinden. Wie Schocker, der die große Flatter versuchte. Raus aus der Siedlung. Mit Mario im LKW nach San Remo ans Mittelmeer. Sein Traum. Seine Sehnsucht. Sein Ziel, ein neues Leben zu beginnen. Leider gescheitert. Und ich? Ich träumte davon, mein neues Leben in Deutschland mit einem neuen Leben auf den Philippinen eintauschen zu können. Weit weg von meiner Mama, von dem Mann im Haus und von seinen Kindern. So weit weg, dass sie mich nie mehr finden würden. Weit weg von der Schule, die ich nicht vermissen würde. Ich würde Schmuck stehlen wie Richy und den Schmuck für viel, viel Geld auf den Philippinen verkaufen. Für so viel Geld, dass ich mir ein Haus wie die Zuckerbarone in Bacolod kaufen könnte. Mit richtigen Fenstern, Zimmern mit Tapeten, ein Badezimmer mit Fliesen so wie hier bei meiner Mama und ein Swimmingpool. Oma Ocampo könnte darin schwimmen und Noel, aber nicht Jeffrey, der mir immer Angst bereitet hatte.

      Doch das Klopfen an der Tür verriet mir, dass der Traum noch lange nicht in Erfüllung gehen würde. Das Klopfen an der Tür wies zu meiner Erleichterung zudem darauf hin, dass nicht Mama vor meiner Tür stehen konnte. Ein erneutes Klopfen an der Tür zwang mich dazu, mein Schneckenhaus