Wenn Wolken Wandern. Carsten Freytag. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carsten Freytag
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750214187
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ich die Zimmertür geöffnet, um mithören zu können, was der Polizist meiner Mama mitzuteilen hatte. Vorwiegend sprach er von den Konsequenzen meiner Straftat. Zugleich versuchte er, meine Mama zu beruhigen, die zusammengesackt kraftlos auf dem Sofa saß und ihren Kopf mit ihren beiden Händen abstützte. Nach vier Jahren in Deutschland verstand ich so gut Deutsch, dass ich dem Gespräch gut folgen konnte. Überhaupt fiel es mir leicht, eine neue Sprache zu lernen. Ilonggo zu Hause in Victorias City ist meine Muttersprache. Tagalog und Englisch kamen in der Grundschule und später in der High School dazu. Auch meine Mama sagte, dass sie schnell eine neue Sprache lerne. „Wenn du viel singst und ein Gefühl für Melodien hast, dann lernst du eine neue Sprache viel schneller“, hatte sie mir gesagt, als sie einmal Zeit für mich hatte. Nur hatte ich niemals Grund zum Singen.

      Und was ich dann hörte, verursachte ein breites Grinsen in meinem Gesicht. Ich huschte so leise wie eine Schlange in mein Zimmer zurück, wo ich mich schmunzelnd aufs Bett fallen ließ. Ich würde sicherlich, so hatte der Polizist meiner Mama erklärt, glimpflich davonkommen, da ich bisher zum ersten Mal geklaut hatte und vorher nicht auffällig geworden bin. Das Wort glimpflich kannte ich schon. Meine Klassenlehrerin hatte es mir erklärt, als ich gemeinsam mit meiner Mama vor einem Jahr zu einer Klassenkonferenz eingeladen worden war, weil ich einem Arschloch in die Eier getreten hatte, der mich blöd angemacht hatte. Auch damals sollte ich glimpflich davonkommen. Zwei Wochen den Schulhof fegen und die Kippen entfernen. Und nun sollte ich wieder glimpflich davonkommen. Der Polizist hatte keine Ahnung. Der Mann im Haus hatte keine Ahnung. „Oh, hat deine Mutter dir wieder etwas Neues gekauft?“, fragte er mich, wenn er mich in den neuen Klamotten sah. Seine drei Söhne hatten ebenfalls keine Ahnung. Meine neuen Klamotten interessierten sie aber auch nicht. Und meine Mama hatte auch keine Ahnung. Zum Glück.

      Pech war nur, dass ich an jenem Freitagnachmittag, Anfang Juni, erwischt wurde. Auf der anderen Seite war dies doch nur die Konsequenz einer logischen Betrachtung: je öfter ich klaute, desto höher die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden. Und wenn ich die Anzahl meiner Diebstähle in Vergleich zu der Anzahl meiner Verhaftungen setzte, dann war das Ergebnis durchweg positiv. Anders ausgedrückt, ich war erfolgreich. Nicht in der Schule, aber in der Mitnahme von unbezahlten Gegenständen. Alles, was ich trug, war gestohlen. Meine Schuhe. Meine Jeans. Meine Bluse. Ja, auch der Kunstschmuck, den ich trug, wurde unrechtmäßig erworben. Anders ausgedrückt, alles war umsonst. Es war leicht, meine Mama anzulügen, weil sie sich keine großen Gedanken um mich machte. „Du hast neue Schuhe?“, fragte meine Mama. „Von meinem ersparten Taschengeld gekauft“, log ich sie an, „und die Bluse hat mir eine Freundin geschenkt, die die Bluse nicht mag.“ Und so weiter. Und so weiter. War ich erfolgreich im Klauen, so war ich auch erfolgreich beim Lügen. Und je mehr ich log, desto stärker glaubte ich an die Lüge, die zu einer unumstößlichen Wahrheit wurde. Ich war so erfolgreich, dass ich die Anführerin eine Diebesbande wurde. Und das nach nur drei Jahren in Deutschland. Ich glaube nicht, dass meine Englischlehrerein an meiner Gesamtschule diesen Weg gemeint hat, den ich eingeschlagen habe, als sie mich in der ersten Schulstunde in Englisch darauf hinwies, dass ich meine Chance, in so einem reichen Land wie Deutschland leben zu können, nutzen muss.

      Sicherlich war ich nicht intelligent, aber ich war clever. Einen Dreisatz zu berechnen fiel mir schwer, die mechanische Arbeit mit den ganzen Formeln zu berechnen, bereitete mir größte Kopfanstrengungen, aber eine Verkäuferin in einem Gespräch so abzulenken, dass sie nicht merkte, wie ich mit flinken Händen die Ohrringe in das Oberteil meiner Bluse rutschen ließ, ist für mich ein Zeichen von Cleverness oder Abgezocktheit, wie es meine Freundinnen bewundernd nannten. Als durchtrieben bezeichneten mich diejenigen in der Schule, die mich nicht mochten.

      Meine kriminelle Karriere, dieses Wort hatte ich in dem Gespräch zwischen dem Polizisten und meiner Mama aufgeschnappt, hatte in der Gesamtschule begonnen. Wenn der Polizist meine Verhaftung als den möglichen Beginn einer kriminellen Karriere bezeichnete, so kann ich dazu nur sagen, dass sie schon lange vor der Verhaftung stattgefunden hatte.

      Alles begann mit dem Wunsch, dem Kaschmir-Klub anzugehören. Natalia aus Russland war im Kaschmir-Klub, auch Adelina aus Rumänien gehörte dazu, Dorentina aus dem Kosovo und Ute und Monika, zwei deutsche Schülerinnen, hatten die Mutprobe bestanden und waren nun stolze Mitglieder im Kaschmir-Klub. Sie alle trugen stolz ihre teuren Kaschmirpullover nach der bestandenen Mutprobe im Unterricht. Und ich wollte dazugehören. Ich suchte Kontakt zu Menschen, um aus meiner Einsamkeit herauszukommen. Und ich suchte Anerkennung, die ich bei dem Mann im Haus, bei den drei Söhnen und sogar bei meiner Mama nicht erhalten hatte. Natalia, Adelina, Dorentina, Ute und Monika waren cool. Sie ließen sich nichts gefallen. Ermahnungen von Lehrerinnen und Lehrern prallten bei ihnen ab. Über Einträge ins Klassenbuch lachten sie nur. Wenn sie eine Fünf in einer Klassenarbeit ausgeteilt bekamen, standen sie wortlos auf, gingen zum Papierkorb, zerrissen ihre Klassenarbeiten und warfen die Papierfetzen, höhnisch grinsend, dort hinein. Auf dem Schulhof wurden sie von niemandem blöd angemacht. Alle hatten Respekt, wenn nicht sogar Angst vor ihnen, denn sie konnten auch zuschlagen. Den Lehrer ignorierend, prügelten sie sich mit anderen Schülerinnen, wenn es ihrer Meinung nach erforderlich war; auch während des Unterrichts. Und den Freund Dorentinas anzumachen, der die 10. Klasse beendet hatte, war Grund genug gewesen, die Sache im Unterricht sofort mit kräftigen Argumenten zu klären.

      Und so klaute ich nicht einen, sondern zwei Kaschmirpullover am Tag der Mutprobe. Von da an gehörte ich zu ihnen. Ich war endlich jemand. In der Gruppe war ich akzeptiert. Wir trafen uns bei mir zu Hause, tranken Tee, den Hans-Jürgen zubereitet hatte. Er war froh, wie er sagte, dass ich endlich Freunde gefunden hatte. Er hatte wirklich keinen Schimmer. Oft trafen wir uns in der Altstadt und zogen los, um Beute zu finden. Kein Geschäft war vor uns sicher. Um als Gruppe nicht aufzufallen, teilten wir uns auf. Eau de Toilette, CDs, Sonnenbrillen, Modeschmuck, sogar eine Flasche Wodka verfingen sich in meinem Mantel. Am Ende teilten wir die Beute bei Natalia auf, deren Mutter nie vor 20 Uhr von der Arbeit als Wurstverkäuferin nach Hause kam. Mein Aufstieg in der Clique vollzog sich automatisch. Je häufiger ich klaute und je wertvoller die Gegenstände, desto größer war die Anerkennung. Sie alle erkannten, dass ich es echt draufhatte. Ich hätte sogar einen Flachbildschirm gestohlen, wenn ich nur einen Weg gewusst hätte, den Fernseher unerkannt aus dem Laden herauszubringen. Irgendwann wurde mir Hattingen zu klein, zu eng, zu gefährlich, so dass ich die Idee hatte, unser Bummeln durch die Innenstädte in größere Orte zu verlegen. Und so traf ich die Entscheidung, wann immer die Zeit es erlaubte, uns am Hattinger Bahnhof zu treffen, um nach Bochum oder vorzugsweise in die Kettwiger Straße in Essen zu fahren, weil es da im Vergleich zu Bochum nur so von Geschäften wimmelte.

      Wohlstand in der Armut

       M anchmal war meine Oma mit mir und den Brüdern meiner Mama im Jeepney nach Bacolod gefahren, nicht weit weg von Victorias City, und wir guckten uns die Geschäfte im Robinsons Place an. Niemals hatten wir etwas in der Shopping Mall gekauft, niemals waren wir in die Restaurants gegangen, um dort etwas zu essen, weil es zu teuer war, denn wir waren schrecklich arm. Wir waren zum Windowshopping gezwungen. Ich wunderte mich immer wieder über die Menschen, die so viel Geld hatten, im Robinson Place einkaufen gehen zu können. Ich beneidete sie. Sicherlich gehörten viele der Kunden den Familien der Zuckerbarone an, denen die Zuckerrohrfelder gehörten, auf denen die Brüder meiner Mama und alle anderen sacadas, auch minderjährige Kinder, für zweihundertvierzig Pesos am Tag auf den Zuckerrohrfeldern schuften mussten.

       Sie hatten alles, hatte Noel mir ungläubig staunend gesagt, als er einmal, was äußerst selten vorkam, einen der reichen Landbesitzer mit spanischen Vorfahren besuchen musste, um für ihn etwas zu erledigen. Eine Hacienda, drei große Autos mit Allradantrieb, Zimmer mit Klimaanlagen oder mit mächtigen Ventilatoren, die an den Zimmerdecken hingen wie übergroße summende Bienen. Wie herrlich kühl und luftig es in den Zimmern war. Zimmer mit Glasscheiben und Tapeten. Eine Terrasse, so groß und breit wie fünf Häuser in unserer Straße. Ein Swimmingpool, von weiten Grünflächen umgeben, in dem zwei Frauen ihre Bahnen zogen. Eine hohe Mauer verhinderte neidische Blicke auf die Hacienda, wenn es denn überhaupt eine Gelegenheit gab, einen Blick auf den Lebensstil der Zuckerbarone