Wenn Wolken Wandern. Carsten Freytag. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carsten Freytag
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750214187
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Glücks, das war mir stets bewusst, nicht lange vorhalten. Sobald meine Mama von der Arbeit zurückkam, zerstörte sie mein Leben als Vamp und Glamourgirl, indem sie mich zur Putzfrau degradierte und ich Aufgaben im Haus erledigen musste, während sie sich, bevor sie das Essen zubereitete, auf die Couch legte, um sich von dem anstrengenden Vormittag zu erholen. Erziehung zur Selbständigkeit erfolgte auf der Basis folgender Anordnungen: „Putz das Klo, auch das Gästeklo, trag den Müll raus, saug die Kinderzimmer, räum die Küche auf und wisch den Boden, und wenn dann noch Zeit ist, räum die Abstellkammer auf, die schrecklich aussieht.“ Erziehung zur Selbständigkeit ist auch das eigenständige Zurechtkommen mit den Problemen und Irritationen, die mit den körperlichen Veränderungen einer jungen Frau einhergehen. Mein Blut hatte ich mit elf. Ich hatte schreckliche Angst, als ich das Blut auf dem Bettlacken entdeckte. Hatte ich eine fürchterliche Krankheit? Meine Mama kam, registrierte, was geschehen war, und gab mir eine knappe Minute, um mich aufzuklären. Von da an musste ich alleine mit den Wundern der Natur klarkommen. Wenn ich Fragen hatte, wendete ich mich meistens an Dorentina. Sie wusste bereits aus eigener Erfahrung, was Petting und Cunnilingus war, und sie gab mir Tipps, um nicht ungewollt schwanger zu werden. Von ihr erfuhr ich aus erster Hand, wie es sich anfühlt, wenn das harte Glied in die feuchte Vagina eindringt.

      Und so bedeutete die Erziehung zur Selbständigkeit selbstverständlich auch, dass ich mich nach der Prügelattacke meiner Mama selbst verarzten musste. Der Umgang mit Pflastern und Mullbinden war mir bereits vertraut, das Jod brannte wie immer höllisch und zur Linderung meiner Schmerzen nahm ich eine Paracetamol oder auch zwei, wenn die Schmerzen nicht weggehen sollten. Niemand kam in mein Zimmer. Niemand fragte danach, wie es mir ging. Unten hörte ich die Kinder mit ihrem Vater spielen. Ich setzte mich auf mein Bett, hörte ein wenig Musik über mein Handy, schrieb einige SMS an meine Freundinnen und kämmte mir vor dem Spiegel ausgiebig mein langes schwarzes Haar, auf das ich stolz war, wenn es so schön glänzte, bevor ich ins Bett ging, um zu versuchen, irgendwie einzuschlafen. Ich hatte Hunger, aber ich wagte es nicht mehr, die Treppe hinunterzuschleichen, um mir in der Küche leise und unbemerkt ein Butterbrot zuzubereiten.

       Wahre Liebe in der Welt der Unmoral

      Ich zwinge mich dazu, die Gedanken an meine Kindheit zu verdrängen. Nur weg mit diesen Gedanken, die doch zu nichts führen und mich in meiner Freiheit einengen, mich gefangen halten. Das Abblendlicht eines Autos lässt meine dunkle Wohnung für Sekunden in weißem Licht erstrahlen. Ich schiebe die Gardine zur Seite, um besser sehen zu können. Doch zu meiner Enttäuschung fährt der Wagen am Haus vorbei und nimmt das Licht mit. Seufzend setze ich mich zurück auf den Stuhl, nicht ohne einen ängstlichen Blick auf die Uhr an der Wand zu werfen, deren tickender Sekundenzeiger bedrohlich die Stille durchbricht. Null Uhr 23. Er muss doch kommen! Er kann mich doch nicht jetzt alleinlassen!

      Ich lernte Werner am amerikanischen Independence Day kennen, als ich zwanzig wurde und wo, nur acht bis elf Flugstunden entfernt, ein gigantisches Feuerwerk den denkwürdigen Tag der amerikanischen Geschichte umrahmte. Die Ironie, die diese zeitliche Konstellation mit sich brachte, kam mir erst viel später in den Sinn. Folglich war ich nicht bereit, meine Geburt an diesem glorreichen Tag vor zwanzig Jahren als einen historischen Akt der Geschichte zu betrachten. Für meine Mutter war mein Geburtstag, da bin ich mir nun sicher, stets der Tag der qualvollen Erinnerung an die gescheiterte Hochzeit in Manila und die Schande, die sie über ihre Familie in Negros brachte, ein uneheliches Kind in die Welt gesetzt zu haben.

      Und so war der Umtrunk zur Feier meines Geburtstags am 4. Juli 2015 an der Theke der Hamburger Bar mit dem bezeichnenden Namen Goldener Stern mit meinen halbnackten Kolleginnen, die noch nicht in männlicher Begleitung waren, eher eine Art ungewollter Zeitvertreib, bevor der nächste Freier zur Tür hereinkam. Und weil es noch für vier meiner Kolleginnen nichts zu tun gab, hatte Manni, der ausnahmsweise gut gelaunt war, eine Flasche Sekt, keinen Champagner, zur Feier des Tages spendiert. „Wir trinken auf Melody, dass sie uns noch viele Jahre hier im Club erhalten bleibt“, rief er laut in die Runde, „von ihr könnt ihr alle noch etwas lernen“. Manni grinste, als er dieses Lob aussprach und sein Glas erhob und mir lächelnd zuprostete. Seine blendendweißen Zähne funkelten im Neonlicht so gefährlich wie die todbringenden Zähne eines mächtigen Hais kurz vor dem Zuschnappen und Verschlingen seiner Beute. Sein Lob bedeutete mir wenig, galt es doch wohl vorwiegend meiner zweifelhaften Fähigkeit, Freier gnadenlos auszunutzen, wenn es um die Entleerung ihrer Brieftaschen und ihrer Hodensäcke ging. Ein Lob als Zeichen seiner Anerkennung für gute Arbeit bedeutete noch nicht, von Manni aufrichtig respektiert und gewürdigt zu werden. Manni regierte mit Zuckerbrot und Peitsche. Wenn mir die Redewendung, von Kolleginnen oft benutzt, am Anfang unbekannt war, so sollte ich doch schnell lernen, was es mit dem Zuckerbrot und der Peitsche auf sich hatte. Seine inszenierte Unberechenbarkeit, die es ihm erlaubte, mir brutal ins Gesicht zu schlagen, wenn er der Meinung war, dass ich nicht genug anschaffte, wandelte sich noch am gleichen Abend in Sanftmut, wenn ich einen Freier dazu gebracht hatte, zwei Flaschen Champagner für jeweils hundertdreißig Euro zu bestellen, noch bevor ich mit ihm auf mein Zimmer ging, um es ihm zu besorgen, wozu er nach dem Alkoholkonsum gar nicht mehr in der Lage war. So unterschiedlich wie der Wechsel der Gezeiten in Ebbe und Flut, so unterschiedlich war die Wortwahl Mannis, die uns stets in gefährlicher Anspannung hielt. War seiner Meinung nach nicht genug Geld in die Kasse geflossen, drohte er mit Schlägen, was in der Regel keine leere Drohung war. „Was sitzt du hier rum Melody, du nichtsnutzige faule Schlampe? Geh auf die Straße anschaffen, bevor ich dir deine Scheißfresse poliere“ war Ausdruck seiner Unzufriedenheit, die aber schnell in Wohlgefallen umschlagen konnte. „Melody, komm mal her. Lass dich umarmen. Du bist meine beste im Stall.“ Ein kleiner Klapps auf den Po und ein Küsschen auf die Wange unterstützten seine Worte ein jedes Mal, wobei er gefährlich lächelte. Man wusste bei Manni nie, woran man war. Gefährlich war auch sein attraktives Äußeres, das ihm das unverwüstliche Bewusstsein verlieh, bei Frauen nicht nur auf Grund seiner Position das zu bekommen, was er wollte. Manni sah im wahrsten Sinne des Wortes blendend aus. Manni war groß gewachsen und durchtrainiert, ohne überschüssiges Fett. Mannis Körper war bewundernswert. Ganz im Gegensatz zu der Vielzahl an ungepflegten, korpulenten und altersschwachen Freiern, die ausschließlich meinen Körper als menschliche Mülltonne für ihre Körperflüssigkeiten benutzten. Alle neuen Kolleginnen, die Manni von konkurrierenden Zuhältern abgekauft oder selbst ins Milieu eingeführt hatte, kamen um das Vergnügen nicht umhin, besonders einen Teil seines Körpers näher kennen zu lernen, da er sich das Recht vorbehielt, die neue Ware auf ihre Qualität hin genauestens zu überprüfen.

      So trugen auch seine langen blond gelockten Haare, die bis zu den Schultern herunterhingen, sein ebenes, feines, makelloses Gesicht, seine blaue Augen, die einen freundlich anstrahlen oder eisige Kälte ausstrahlen konnten, zu seiner dominanten Erscheinung bei. Wie Diamanten funkelten seine weißen Zähne im halbdunklen Neonlicht der Bar, wenn er lächelte. Zu seiner Lieblingskleidung zählten neben dem langen Pelzmantel aus Fuchsfell auch seine besonders weichen schwarzen Nappalederhosen, wobei er gerne spitze Cowboystiefel trug. Gerne trug er auch Westen aller Art. Eine goldene Rolex als Statussymbol glitzerte an seinem linken Handgelenk. Er war, wie Chantal, seine Lieblingshure, sagte, die Inkarnation eines Verführers. Was auch immer das heißen mochte.

      Ein untypischer Freier

      Schritte im Hausflur. Licht ist eingeschaltet worden. Ein dünner Lichtstreifen zwängt sich durch die untere Türschwelle meiner dunklen Wohnung. Ich halte den Atem an und lausche den Stimmen, die gedämpft in meine Wohnung dringen. Schritte kommen näher. Erklimmen die Treppe zu meiner Wohnung. Noch näher. Mein Herz rast. Wilde Gedanken schießen durch meinen Kopf. Gedanken voller Gewalt und Brutalität. Doch die Stimmen wandern weiter die Treppe hinauf. Ich atme erleichtert auf, lehne mich, erschöpft nach der Anspannung, in den Sessel zurück. Die Stimmen suchen mich noch nicht. Doch ich weiß, sie werden mich bald finden. Wo bleibt denn nur Werner? Dreißig Minuten über der Zeit. Er müsste doch schon längst hier sein! Warum habe ich mich nur auf ihn verlassen? Sollte ich mich in ihm getäuscht haben?

      Werner war so ganz anders als die anderen Freier, die ich bisher beglückt hatte. Seine Unsicherheit war mir sofort aufgefallen, als er mit unsicheren