Wenn Wolken Wandern. Carsten Freytag. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carsten Freytag
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750214187
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Unerreichbar. Niemand kann eine Wolke schlagen und verletzen. Wenn ich es könnte, würde ich zu den Wolken hinaufsteigen, eine von ihnen werden, würde mit meinen neuen Freunden über Indien hinweg bis nach Südostasien wandern. Nur weg von hier. Immer schneller, immer weiter weg von hier. Sie würden mich tragen bis in meine Heimat, wo die Luft so warm und weich wie Weihrauch ist. Und plötzlich erfüllte mich ein Gefühl der Hoffnung, ein Gefühl von Wärme durchdrang meinen geschundenen Körper, als ein goldener Sonnenstrahl die Wolkendecke plötzlich durchbrach und mein Gesicht erhellte. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr alleine zu sein.

      Bei meinem Versuch aufzustehen, spürte ich einen brennenden Schmerz in meinem Unterleib, dort wo meine Mama mich immer getreten hatte, nachdem ich zu Boden gegangen war. Nur der Mann, der irgendwann in mein Zimmer kam, hatte meine Mama davon abgehalten, mich totzutreten. So wütend war meine Mama gewesen. „Bist du total verrückt geworden! Komm zur Besinnung!“, hatte der Mann gerufen und den nächsten Tritt meiner Mama verhindert, indem er dazwischengesprungen war. Der Schreck stand ihm im Gesicht geschrieben. Doch ich wusste nicht, ob er mich oder meine Mama beschützen wollte, als er den nächsten Tritt meiner Mama abgefangen hatte. Ich hatte auch erst viel später verstanden, was Besinnung heißt, denn ich war erst vier Jahre in Deutschland.

      Warten

      Ich verfluche die Zeit des Wartens, die mich dazu führt, in meine Vergangenheit zu blicken. Das, was ich glaubte verdrängt zu haben, kommt immer dann zum Vorschein, wenn ich warte oder einsam in meiner kleinen Wohnung bin und nicht weiß, was ich tun soll. Wann kommt er denn endlich? Hoffentlich kommt er auch. Wenn er mich jetzt in dieser Situation im Stich lässt, bin ich für immer und ewig verloren. Dann wird es keinen Ausweg mehr geben. Ich liebe ihn. Ich glaube, so etwas wie Liebe zu verspüren. Und er liebt mich. Das sagt er zumindest. Mahal kita. Doch manchmal fühle ich eine beklemmende Angst in mir. Mahal kita. Zu oft habe ich diesen Satz gehört, während die Männer in mir eindrangen. Nicht selten baten Freier mich, den Satz der Liebe und des Lebens in meine Heimatsprache zu übersetzen, als glaubten sie wirklich, mit dieser Lüge, während sie sich in mir wollüstig ergossen, eine tiefere seelische Verbindung mit mir eingehen zu können. Ein Satz, der für mich stets nur Enttäuschung und grenzenlose Ernüchterung mit sich führte. Ein Satz ohne Verheißung und Hoffnung. Ein Satz, der nicht einmal über die Lippen meiner Mutter kam.

      Ich versuche, meine Nerven zu beruhigen, indem ich mich versichere, dass Werner es wirklich ernst meint und mich hier herausholt. Und so zwinge ich mich zur Ruhe und schaue trotzdem auf die Uhr, die mir mitteilt, dass Werner schon seit fünf Minuten bei mir sein müsste. Mein Koffer ist gepackt. Die Flucht in der Mitternacht müsste in Sekundenschnelle vonstattengehen. Leise die Tür schließen, wortlos schnell das Treppenhaus mit leichten, leisen Schritten heruntereilen und in den vor dem Haus geparkten Wagen hineinspringen, die Wagentür vorsichtig schließen und unauffällig davonfahren. In eine neue Stadt, wo mich keiner kennt, in ein neues Leben ohne Gewalt und Angst.

      Aller Anfang ist schwer

      Meine Mama kam auch nicht mehr in mein Zimmer, um zu schauen, wie es mir ging. Der Mann kam auch nicht mehr. Nur die Kinder, neugierig angezogen von dem Lärm, traten plötzlich leise ein und schreckten zurück, als sie mich blutend auf dem Teppich liegen sahen. Sie waren noch zu jung, um zu verstehen, was vorgefallen war. „Mama“, rief der fünfjährige Jakob, „Geraldine blutet.“ Doch der Hinweis Jakobs führte nicht zu einer medizinischen Versorgung meiner blutenden Wunde. Meine Mama kam nicht mehr.

      Der Mann war der Ehemann meiner Mama und hieß Hans-Jürgen, aber ich nannte ihn, wenn ich allein war oder wenn ich nachdenken musste oder wenn ich mit meinen Freundinnen zusammen war, nur den Mann im Haus, weil er nicht mein Vater war. Und so konnte ich auch nicht Papa zu ihm sagen. Auch seinen Vornamen auszusprechen fiel mir schwer. Vielleicht hätte meine Mama mich früher nach Deutschland holen sollen. Ich war bereits zehn Jahre alt, als ich die Philippinen verlassen hatte. Vielleicht war ich schon zu alt, um mich an den Mann zu gewöhnen. Ich musste dem Mann im Haus allerdings zugestehen, dass er sich anfangs Mühe gegeben hatte, mich näher kennen zu lernen, um mit mir klarzukommen. Im Winter kaufte er mir Schlittschuhe und lud mich mit seinen drei kleinen Söhnen zum Schlittschuhlaufen ein. Mein erster Winter in Deutschland. Der erste Schnee. Im Gegensatz zu den Kindern registrierte ich die tänzelnden Schneeflocken, die sich von Mal zu Mal dichter auf dem Boden versammelten, eher unaufgeregt und gleichmütig. Während ich in Negros nur ein Hemd besaß und eine zerfranste Jeans, trug ich nun dicke Wollsocken, Thermounterwäsche, darüber eine dicke, unbequeme Thermohose, dazu einen pinkfarbenen Pullover und darüber eine wattierte, voluminöse Winterjacke und dazu noch einen roten Schal und dazu noch die Wollhandschuhe und dazu noch die klobigen Winterschuhe, die ich nun durch Schlittschuhe ersetzt hatte. Und nicht zu vergessen, meine Wollmütze, unter der mein Haar fürchterlich juckte. Und ich bibberte dennoch auf dem zugefrorenen See in der eisigen Kälte, während ich mich ständig beim Versuch, mich auf dem rutschigen Eis voranzubewegen, auf den Hosenboden setzte, was äußerst schmerzhaft war. Die Antwort auf die Frage des Mannes im Haus, ob mir das Eislaufen Spaß bereitete, konnte er an meinem Gesichtsausdruck ablesen. Weitere Angebote zum Eislaufen lehnte ich dankend ab. Der Mann kaufte mir im Frühjahr ein Fahrrad und lud mich zum Fahrradfahren ein, doch ich hatte keine Lust, ewig in die Pedale zu treten, um fünfzehn Kilometer zum See zu fahren und zurück. Zu anstrengend. Zu langweilig. Ich zog es vor, mit meinen neuen Freundinnen aus der Gesamtschule durch die Innenstadt zu bummeln. Der Mann hatte sogar ein Segelboot und lud mich ein, mit seinen Kindern auf dem Kemnader See zu segeln. Ich kann nur sagen: einmal und nie wieder. Zu windig, zu wackelig, zu langweilig. Ständig musste gekreuzt werden, um in eine Richtung zu fahren, weil der Wind ungünstig wehte. Nie ging es geradeaus. Immer nur im Zickzack. Dann richtete sich das Boot plötzlich schräg zur Seite. Und ich hielt mich irgendwo fest, voller Panik, dass das Boot umkippen und wir im aufgewühlten Wasser landen würden. Ich konnte nicht verstehen, warum die Kinder so begeistert waren, wenn das Boot doch in Gefahr war, seitlich umzukippen. Nicht mein Ding. Segeln war für mich abgehakt. Und so kam der Mann im Haus auch nicht mehr in mein Zimmer, um zu sehen, wie es mir ging.

      Meinen richtigen Vater habe ich nie kennengelernt. Ich weiß nicht einmal seinen richtigen Namen. Meine Mama hat ihn nie erwähnt, und zwar wohl aus tiefer Enttäuschung darüber, dass der Mann kurz vor der geplanten Hochzeit meine Mama verlassen hatte, weil er sich in eine andere Frau verliebt hatte. Das habe ich von Noel, dem Bruder meiner Mama, gehört. Und meine Mama war da schon schwanger mit mir. Und so erblickte ich am 4. Juli 1995 das Licht der Welt. In Manila. Als ich geboren wurde, war meine Mama ganz allein, ohne Ehemann und ohne Unterstützung ihrer Eltern, die es sich nicht leisten konnten, von unserer Insel Negros aus eine Fähre nach Manila zu buchen, um bei der Geburt dabei zu sein. So musste meine Mama mich nur mit der Hilfe einer Hebamme austragen. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie hätte mich weggemacht, und ich wäre gar nicht zur Welt gekommen. Vieles wäre mir und ihr erspart geblieben. Doch die strenge katholische Erziehung durch die Eltern, deren Einfluss bis nach Manila reichte, machte es für meine Mama unmöglich, mich wegzumachen. Mit so einer Sünde, sich über Gott hinwegzusetzen, indem das neue Leben als Geschenk Gottes nicht angenommen wird, hätte meine Mama nie wieder ihre Familie in Victorias City auf der Insel Negros besuchen können. Das hat mir meine Mama gesagt, als sie mich irgendwann einmal bei meiner Oma besucht hatte.

      Mama war wirklich sehr wütend auf mich. Es musste aber auch irgendwann passieren. Vielleicht hatte ich es auch verdient, von meiner Mama so verprügelt zu werden. Lügen hatte keinen Sinn mehr gehabt. Ein Polizist hatte mich nach Hause begleitet. Die Nachbarn guckten neugierig, als der Polizist an der Haustür klingelte. Meine Mama guckte überrascht, ihr Blick drückte Verwunderung aus, die sich schnell in Wut verwandelte, als sie erfuhr, dass ich beim Klauen vom Ladenbesitzer erwischt worden war. „Na warte ab, das wirst du noch bereuen!“, hatte sie auf Tagalog zu mir gesprochen. Immer, wenn sie wütend war und wenn sie nicht wollte, dass andere ihre Gespräche mit mir verfolgen sollten, sprach sie Tagalog mit mir. Manchmal auch Ilonggo. Ich flüchtete in mein Zimmer, obwohl das Zimmer keinen Schutz vor ihren Schlägen