Wenn Wolken Wandern. Carsten Freytag. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carsten Freytag
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750214187
Скачать книгу
Haus verlangte nach mir.

      „Ja.“

      Der Mann im Haus öffnete vorsichtig die Tür, schaute irritiert in mein Zimmer hinein, da er eine reife Frau auf dem Stuhl vor dem Spiegel sitzen sah.

      „Ehm, kommst du runter zum Abendessen, Geraldine. Deine Mutter hat Chicken Adobo gekocht.“

      Ich spürte seine Unsicherheit in seiner Stimme. Ich spürte sein Verlangen, etwas zu sagen, etwas zu ergänzen, vielleicht ein Wort bezüglich meiner Transformation, doch

      er unterdrückte seinen Impuls und schluckte die gedachten Worte hinunter.

      „Kann ich hier in meinem Zimmer essen?“

      „Du weißt, Geraldine, dass deine Mutter dich lieber unten am Tisch sitzen sieht“.

      „Bitte. Ich möchte lieber hier oben essen.“

      Der Mann im Haus überlegte kurz. Ich spürte, soweit hatte ich ihn schon durchschaut, wie er überlegte, ob seine Entscheidung, mich hier oben in meinem Zimmer allein essen zu lassen, einen Konflikt mit Mama hervorrufen würde.

      „Nun gut, ich werde dir etwas in dein Zimmer bringen.“

      „Ich danke dir, Hans-Jürgen.“

      Wie ein Luftzug im heißen Sommerwind bei geöffneten Fenstern wehten die Worte gehaucht in sein Ohr.

      „Du bist so nett zu mir.“

      Einen letzten Blick auf mich werfend, schloss er die Tür leise und seine Schritte verloren sich im Korridor.

      Meine Mama hatte es nicht gerne, wenn ich in meinem Zimmer die Speisen zu mir nahm. In der Regel erwartete sie, dass ich nach unten ins Esszimmer kam. Dabei ging es ihr nicht so sehr um die Sorge meines seelischen Wohlergehens, das sie vielleicht durch meinen Rückzug in mein Schneckenhaus hätte gefährdet sehen können, nein, ihr ging es mehr um die Effizienz ihrer Hausarbeit. Unordnung im Haus war verpönt. Und das Essen in meinem Zimmer bedeutete eventuell mehr Unordnung und somit mehr Putzarbeit. Nach der Erholung von einem Ocampo-Anfall, der ihr jeglichen Antrieb, bestenfalls für Stunden, schlimmstenfalls für Tage raubte, verlagerte sich der Arbeitsantrieb meiner Mama exakt in das Gegenteil. Dann wurde geschrubbt, gebohnert, gesaugt, gewischt und gefegt, dass keiner mehr im Haus Ruhe fand. Dabei ihre Lieder singend, betonte sie ein jedes Mal ihre Vorliebe für Sauberkeit und Ordnung im Haus, die ihre Arbeitgeber in Manila, eine reiche Kaufmannsfamilie, zu schätzen gelernt hatten. Nur wunderte ich mich ein jedes Mal, wenn sie diese Tatsache hervorhob, ob sie den Kindern der reichen Kaufmannsfamilie auch eine geballert hatte, wenn sie vergessen hatten, so wie ich manchmal, das benutzte Geschirr in die Spülmaschine zu stellen. Und so gesehen konnte die Entscheidung des Mannes im Haus, mein Abendessen in meinem Zimmer einnehmen zu dürfen, durchaus einen Konflikt mit meiner Mama provozieren.

      „Geraldine! Gaba ka agad !

      Die Entscheidung war getroffen. Natürlich gegen den Mann im Haus. Der herrische Ton meiner Mama forderte mich auf, sofort nach unten zu kommen, um am Essenstisch Platz zu nehmen. Schlechtgelaunt verließ ich mein Schneckenhaus und schlurfte mürrisch die Treppe zum Wohnzimmer hinunter.

      „Wie sieht denn Geraldine aus“, rief Jakob zum Erstaunen aller aus, als ich mich an den Tisch setzte.

      „Geraldine, wie siehst du denn aus!“, rief meine geliebte Mama, „du siehst ja aus wie eine Nutte.“

      Ihre Worte trafen mich so hart wie ihre Schläge in meinem Gesicht. Einen inneren Impuls unterdrückend, einfach mit einem heftigen Ruck aufzustehen und den Ort der Demütigung zu verlassen, schaute ich starr auf den Boden, beinah wie Mama, wenn sie ihren Anfall hatte, und versuchte, die entglittene Kontrolle zurückzugewinnen.

      „Nun lass doch Geraldine endlich einmal in Ruhe“, verteidigte Hans-Jürgen meine Verwandlung in eine reife Frau; eine Verteidigung, die wohl darauf abzielte, es seiner Frau heimzuzahlen, die sich über seine Entscheidung, mir zu erlauben, das Abendessen in meinem Zimmer zu verzehren, hinweggesetzt hatte.

      Vielleicht war der Grund, warum ich mich lieber in mein Schneckenhaus zurückzog, nicht nur die Angst vor meiner Mama und ihrer Unberechenbarkeit, sondern auch Zeuge eines ständigen Machtkampfes zwischen meiner Mama und dem Mann im Haus zu sein. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der Mann im Haus nicht der Mann im Haus war, weil meine Mama den Ton angab.

      „Geraldine, geh nach oben und wisch die die Schminke aus dem Gesicht, bevor wir essen!“

      „Ich möchte aber nicht. Mir gefällt es so.“

      „Geraldine, ein letztes Mal. Geh nach oben oder du wirst mich kennen lernen.“

      Die Worte kamen so laut gebrüllt wie auf einem Kasernenhof. So laut, dass nicht nur die Nachbarn in der Reihenhaussiedlung den Befehl mithören konnten, sondern so scharf im Ton, dass der kleine Jakob zu weinen anfing.

      „Komm, Geraldine, tu, was deine Mama sagt“, flüsterte Hans-Jürgen, der sich nun eingestehen musste, seinen Kampf gegen seine Frau wieder einmal verloren zu haben. In Erinnerung der letzten Schläge war die Drohung meiner Mama, sie kennen zu lernen, eigentlich völlig überflüssig, aber dennoch erneut ernst zu nehmen, so dass ich mich ohne Worte von meinem Stuhl erhob und die Treppe zu meinem Zimmer hinaufflog, wo ich mich auf das Bett fallen ließ und meine Gefühle mich überwältigten. Auch das Klopfen an der Tür konnte mein Weinen nicht unterdrücken, als Hans-Jürgen mir einen Teller Chicken Adobo ohne zusätzlichen Untersatz auf den Schreibtisch stellte.

      „Komm, du musst was essen“, sagte er leise und schlich, ohne auf eine Antwort zu warten, aus meinem Zimmer.

      Eigentlich war Hans-Jürgen gar nicht so übel, aber irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass er mich nur als einen Gast betrachtete, der irgendwann wieder das Haus verlassen würde. „Das ist deine Tochter“, sagte er immer, wenn meine Mama glaubte, Probleme mit mir zu haben, „du hast sie hierhergeholt und du musst nun mit ihr klarkommen.“ Und er fügte immer wieder hinzu, dass er nicht der Vater sei und sie – gemeint war ich – nicht auf ihn hören würde. Immer wenn Mama und Hans-Jürgen sich stritten, ging es um mich. Und immer, wenn ihre Stimmen lauter wurden, schlich ich mich aus meinem Zimmer und lauschte vorsichtig, dass seine Kinder mich nicht beim Lauschen ertappten, was dort unten besprochen wurde.

      „Ich komme mit meiner Tochter nicht mehr zurecht“, sagte Mama. Und der Mann im Haus sagte: „Das ist deine Tochter, du hast sie hierhergeholt. Du musst mit ihr klarkommen.“ Es klang wie eine Erleichterung, nicht für mich verantwortlich zu sein. Und er fügte hinzu, dass er sich wirklich um mich bemüht habe, aber ohne Erfolg. Nun müsse meine Mama entscheiden, besonders nach dem Diebstahl und der Verhaftung, was mit mir geschehen sollte. Ich hielt den Atem an, um nur nicht ein Wort zu verpassen.

      „Ich habe es satt“, sagte meine Mama, „ich schicke Geraldine zurück auf die Philippinen.“

      „Du kannst doch deine Tochter nicht hin- und herschieben, wie du willst. Du hast sie doch erst vor vier Jahren aus den Philippinen zu uns nach Hause gebracht.“

      „Ich kann mit ihr machen, was ich will.“

      „Nun, es ist deine Entscheidung“, sagte der Mann im Haus seufzend, als wäre eine schwere Last von ihm genommen, und nahm die Tageszeitung, um meiner Mama das Zeichen zu geben, dass er das Gespräch für beendet hielt, jedoch nicht ohne erneut hinzuzufügen: „Es ist deine Tochter und du hast sie hierhergeholt.“

      Ich schlich mich leise zurück in mein Zimmer, legte mich mit dem Rücken aufs Bett und versuchte, die Bedeutung der Worte meiner Mutter zu ergründen, was keine besondere Schwierigkeit bereitete, denn es wurde mir nun eindeutig klar, dass meine Mutter mich nicht liebte, dass sie mich nie geliebt hatte, dass sie mich vielleicht sogar hasste, so sehr, dass sie mich wieder auf die Philippinen zurückzuschicken gedachte, nur weit weg, so weit wie möglich, so dass sie mich nicht mehr zu besuchen brauchte. Die Reaktion des Mannes im Haus war mir egal. Er war nicht mein Vater und ich würde niemals eine väterliche Beziehung zu ihm aufbauen können. Sicherlich wäre auch er froh, wenn ich aus dem Haus wäre. Ich konnte es ihm aber nicht übelnehmen.

      Das