Wenn Wolken Wandern. Carsten Freytag. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carsten Freytag
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750214187
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kopfüber, ihre Schenkel um die verchromte Stange geschwungen, zu Boden glitt. Ein kurzes Kopfnicken Mannis, an mich adressiert, bedeutete das Ende des Geburtstagsumtrunks. Ich verließ die Bequemlichkeit des weich gepolsterten Hockers und nahm mit den üblichen Redewendungen, ihm lächelnd und mit leichten, federnden Schritten entgegenschreitend, Kontakt mit dem schüchternen Freier auf. Werner war nicht fordernd, drängend oder rücksichtslos wie viele andere Freier, die für sich das Recht beanspruchten, nur weil sie für die Liebesdienste bezahlt hatten, entscheiden zu können, welches Programm sie haben wollten. Solche Typen glauben, dir überlegen zu sein und dich wie Dreck behandeln zu können. Solche Typen musst du mit klaren Anweisungen kontrollieren, sonst machen die dich fertig. Ich sage nur: Finger weg von meinem Körper! Ich bestimme, wann und wo sie mich anfassen dürfen. Ich mache die Spielregeln. Ich bestimme das Programm.

      Werner aber, nachdem wir mein Zimmer in der oberen Etage betreten hatten, fragte mich auffallend höflich, ob er sich in den Sessel neben dem zugezogenen Fenster setzten dürfte. Er machte keine Anstalten, sich zu entkleiden. „Willst du nur reden, oder was?“, fragte ich ihn und bereute zugleich den scharfen Ton in meiner Stimme. „Gib mir nur erst einmal ein wenig Zeit, Melody. Ich will dich fürs Erste nur betrachten“, antwortete er mit einer leisen, zarten Stimme, „du bist so wunderschön.“ Irgendetwas in mir veranlasste mich, meinen sonst eher barschen, ja rauen Tonfall abzulegen. Anstatt mit Sprüchen wie „Komm, mach voran, ich hab ne innere Uhr“ oder „fürs Quatschen zahlst‘e aber das Gleiche“ zu reagieren, zeigte ich ein Verhalten, das für mich eher unbekannt und überraschend war. Ich bedankte mich nicht nur bei Werner für sein Lob, weil ich die Aufrichtigkeit in seinen Worten spürte, ich vergaß in der Verwirrung meiner Gefühle sogar, was äußerst unüblich, wenn nicht sogar unverzeihlich war, den Liebeslohn vor dem vereinbarten Programm zu kassieren. Doch dieser Fehler sollte durch seine gänzlich überraschende Großzügigkeit ungestraft bleiben, denn Werner zahlte das Doppelte des vereinbarten Lohns. „Du hast es doch mehr als verdient“, schmunzelte er verlegen, und ich wusste nicht, ob ich mich mehr über seine Anerkennung meiner beruflichen Fähigkeiten freuen sollte oder über die Tatsache, dass ich einen finanziell liquiden Freier gefunden hatte, bei dem Geld wohl nicht die wichtigste Rolle in seinem Leben spielte.

      Werner, das war mir sofort beim Betreten der Bar bewusst geworden, legte viel Wert auf sein Äußeres. Er war älter als ich. So um die dreißig. Wie es sich in dem Gespräch danach herausstellte, war er Rechtsreferendar, einunddreißig Jahre alt, und strebte eine Zukunft als Rechtsanwalt an. Er trug einen Schnurrbart, sorgfältig getrimmt, der ihn älter erscheinen ließ. Sein dunkles Haar war kurz und korrekt geschnitten. Die Brille mit dem auffälligen schwarzen Rahmen erzeugte eine gewisse, vielleicht für einen zukünftigen Rechtsanwalt notwendige Strenge in seinem Gesichtsausdruck, wobei sein schüchternes Verhalten diesem Ausdruck widersprach. Er trug einen grauen Anzug ohne Weste. Die Bügelfalte seiner Hose war so scharfkantig wie die Schneide eines Messers. Auffallend waren seine auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhe. Für einen Augenblick schien es mir, als hätte er sich für den Besuch bei mir besonders vorbereitet, doch ich verwarf den Gedanken sofort, da mir bewusst wurde, dass seine gepflegte Erscheinung nicht auf ein bestimmtes Ereignis konzentriert war, sondern eine bewusste Einstellung zum Leben bezeugte. Werner war ein untypischer Freier. Wie sich herausstellen sollte, hatte Werner mich schon eine lange Zeit auf der Straße beobachtet, wenn er auf dem Heimweg von seinen Seminaren an der Straße meines Arbeitsplatzes vorbeifuhr. Jedes Mal aber, wenn er mich ansprechen wollte, verließ ihn der Mut. Und so, wie der Zufall es wollte, hatte er sich endgültig entschlossen, an meinem Geburtstag, am 4. Juli 2015, mich, die Hure aus dem Goldenen Stern, kennen zu lernen.

      Werner kam nun regelmäßig. Ich zockte ihn nicht ab, wie die anderen Freier, die ich zum Champagnerkonsum animierte, bevor es überhaupt zur Sache ging, was Manni sofort registrierte. Doch das Geld, das ich ihm nach dem Programm überreichte, stimmte ihn stets versöhnlich, zumal ich noch einige Gäste an den Abenden zu bedienen hatte. Dass ich das Doppelte bei Werner kassierte und so mehr für mich einbehielt, blieb mein Geheimnis, und ich hoffte, es für immer bewahren zu können. Zwei bis dreimal die Woche kam nun Werner im Goldenen Stern vorbei. Manchmal musste Werner an der Theke warten, bis ich mit einem anderen Freier, dem ich es gerade besorgt hatte, die Treppe zur Bar herunterkam, wo Werner bereits sehnsüchtig auf mich wartete. Süße, verlockende Angebote meiner Kolleginnen, doch mal mit ihnen ein wenig Spaß zu haben, lehnte Werner stets konsequent ab, obwohl ihre körperlichen Reize nicht zu übersehen waren. „Stört es dich denn nicht, dass ich gerade Sex mit einem Freier hatte?“, hatte ich ihn einmal gefragt, als er beinah eine Stunde auf mich warten musste, obwohl ich mich mit Werner übers Handy für einen bestimmten Zeitpunkt verabredet hatte, doch von Manni gezwungen wurde, einen Freier außerplanmäßig in meinen Terminkalender aufzunehmen, um beide, Manni und den Freier, in ihren Bedürfnissen zu befriedigen. „Es ist dein Job. Ich habe das zu akzeptieren“, hatte Werner auf meine Frage geantwortet, als wir es uns danach im Bett bequem machten. „Und andere Nutten interessieren dich nicht?“, fragte ich ihn leicht provozierend, eine Zigarette rauchend, während er mich empört ansah. „Erwähne dieses Wort nicht noch einmal. Ich hasse dieses Wort. Für mich bist du keine Nutte, hörst du? Für mich bist du mein Engel.“ Von nun an wusste ich, dass das Verhältnis zwischen Werner und mir eine Art romantische Beziehung in einer unromantischen Umgebung angenommen hatte, wobei der Wert der Treue in der Welt der Untreue und Unmoral einen besonderen, wenn nicht gar einen bizarren Wert erhielt. Von nun an war ich bereit, das Wagnis einzugehen, Werner auch außerhalb meiner Arbeitswelt zu treffen, um mich in seinem Freundeskreis und in seiner mir noch sehr fremden juristischen Gesellschaft einzuführen. Von nun an erblühte in mir, vorsichtig zwar, einer Knospe in der Frühlingsonne gleich, das wage Gefühl der Hoffnung auf ein besseres Leben außerhalb des Milieus, in dem ich wie ein Fisch im Netz gefangen und aus Liebe hineingeraten war.

      Mein Schneckenhaus

      Meine Mama war noch immer wütend auf mich und sprach tagelang kein einziges Wort mit mir. Sie hatte wieder ihren Ocampo-Anfall, wie Hans-Jürgen immer sagte, wenn meine Mama auch mit dem Mann im Haus kein einziges Wort sprach. Dann herrschte, wie er sagte, dicke Luft. Dann saß meine Mama auf der Couch, furchtbar schmallippig, und starrte Löcher in die Wand oder schaute fern, die Augen starr auf den Fernseher fixierend, als wollte sie die Glotze hypnotisieren. Alle Aktivitäten im oder um das Haus herum wurden in dieser Situation auf null gefahren. Mama kochte kein Essen, Mama fuhr nicht mehr einkaufen, Mama kümmerte sich zum Glück nicht um mich, die Wäsche blieb ungewaschen, weil Mama nur noch die Wand oder den Fernseher anglotzte. „Sag, doch mal … was ist denn dein Problem? Sag mir, was ich wieder falsch gemacht habe“ waren jämmerliche, wenn nicht sogar peinliche Versuche des Mannes im Haus, meine Mama zum Sprechen zu bewegen. Ihm in diesen Augenblicken zuzuhören, wenn ich von oben heimlich lauschte, wie er versuchte, wie ein reuiger Köter erbärmlich winselnd, die emotionale Blockade meiner Mama zu durchbrechen, war für mich wie eine Erlösung. Nicht nur ich hatte ein Problem mit meiner Mama, auch der Mann im Haus hatte ein Problem mit seiner Frau. Die Verachtung für den Mann im Haus vermischte sich mit einer herrlichen Schadenfreude, die ich als eine Befreiung empfand, und ich verspürte zugleich als Folge dieses Gefühls der Erleichterung den Wunsch, dass sich meine Mama nie mehr von dem Ocampo-Anfall erholen würde, so dass sie mir nie mehr ihre Liebe beweisen müsste.

      Die geringste Kleinigkeit konnte diesen typischen Ocampo-Anfall auslösen: ein falsches Wort, eine falsche Entscheidung, zum Beispiel mit den Kindern zu segeln anstatt mit meiner Mama im Einkaufszentrum zu shoppen, ein längeres Gespräch zwischen Hans-Jürgen und einer hübschen Nachbarin auf der Straße und … peng … schon verfiel meine Mama in diese eiserne Kältestarre. Bei mir allerdings war der Auslöser dieses Ocampo-Anfalls keine Kleinigkeit, obwohl meine Verhaftung im Nachhinein, wenn ich es mir so recht überlegte, meiner Mama wirklich keinen Grund gegeben hatte, mich, wie sagt man so schön, windelweich zu hauen und mich tagelang zu ignorieren, nur weil ich eine kleine Flasche L’ARISÈ 119 im Sonderangebot für lächerliche vierzehn Euro neunundneunzig mitgehen lassen hatte. Ab jetzt, so meine Entscheidung, würde ich nur noch teure Sachen klauen, teurer als ein Kaschmir-Pullover, so dass es sich wirklich lohnen würde, von meiner Mama halbtot geprügelt zu werden.

      Leider wurde mein Wunsch