Nächster Halt: Darjeeling-Hauptbahnhof. Christoph Kessel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Kessel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745004892
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verlassen, bedurfte es keiner großen Kunststücke. Es gab einfach gar keine Ausreisekontrollen. Ich hatte größte Mühe mein kleines grünes Einreise-Kärtchen abzugeben, ehe es nach Mexiko ging. Die Beamten schauten ein wenig ungläubig, als ich sagte, ich würde auf dieser Reise nicht mehr in die USA zurückkommen, nahmen das Papier aber schließlich entgegen. Ansonsten hätte ich das nächste Mal große Probleme, in die Vereinigten Staaten einzureisen. Dass mich niemand bei der Ausreise kontrollierte, konnte ich noch halbwegs nachvollziehen. Dass aber auf der mexikanischen Seite auch niemand meine Papiere sehen wollte, fand ich etwas komisch. Ich hatte bereits eine Vorahnung, dass dies sicherlich nicht die einfachste Einreise meiner Tour sein würde, bekomme ich doch normalerweise eine Touristenkarte beim Betreten von mexikanischem Boden in den Pass geklebt. Auf die Frage, wo ich meine Touristenkarte bekäme, meinten die Leute an der Grenze: »in der Busstation von Tijuana«. Dort angekommen wusste natürlich niemand etwas davon. Vielmehr erzählten mir die mittlerweile um mich versammelten Mexikaner, ich bekäme die Karte in Ensenada, 130 Kilometer weiter südlich. So stieg ich mit etwas mulmigem Gefühl in den Bus nach Ensenada, nachdem mich eine Woge aus freundlichen Mexikanern direkt bis zu dem Bus eskortiert hatte. Ich merkte sofort, dass ich tatsächlich in einem anderen Kulturkreis angekommen war. Fortan würde ich für viele Menschen eine Attraktion aus »Alemania« sein, die nun schon zum dritten Mal in ihr Mexiko reist, oder auch nur eine beliebte Abwechslung vom Alltag, vielleicht auch irgendwann ein »Money Target«, mit dem man leicht legal oder auch auf kriminelle Art und Weise Geld machen kann.

      Es existiert sicherlich kaum eine Grenze auf der Welt, bei der ich beim Grenzübertritt tatsächlich in eine so völlig andere Welt gelange. Auf der einen Seite die Vereinigten Staaten von Amerika, die die Neuankömmlinge mit drei Fahnen begrüßen: Sternenbanner, California Bear Republic und McDonald’s. Auf der anderen Seite Mexiko, das mich mit Musik und Gehupe begrüßte. Es dauerte tatsächlich einige Zeit, bis ich realisierte, wo ich mich mittlerweile befand. Normalerweise benutze ich das Flugzeug, um in solche liebenswürdig chaotischen Länder zu gelangen. Seit meinem letzten Flug war ich aber nun bereits seit sechs Wochen über Land durch den gesamten nordamerikanischen Kontinent unterwegs. Der Übertritt in die so genannten Entwicklungsländer versetzte mich in eine totale Euphorie. Die Wochen der harten Geldkalkulation, des Schlafens im Greyhound-Bus und des notgedrungenen Fastfood-Essens waren zunächst vorbei. Jetzt begann das richtige Leben auf der Straße: Musik aus allen Ecken und Autofenstern, Kindergeschrei, Esel-Getöse, bellende Hunde, das Gackern der Hühner und das Krähen der Hähne, stinkende Auspuffabgase, dampfende Straßenstände mit leckerem Essen, dreckige Straßen und meterhohe Bordsteine wegen fehlender Kanalisation, einladende Biergärten – kurz und gut das Leben in den tropischen Ländern. Natürlich würde ich nun auch mit bitterer Armut und den nicht so positiven Seiten des Lebens jenseits der Grenze konfrontiert werden. Denn kaum eine Grenze verzeichnet so viele illegale Übertritte, die mittlerweile auf jährlich ca. 1,8 Millionen geschätzt werden. Nirgends sterben dabei pro Jahr wahrscheinlich so viele Menschen, wie die 400 armen Seelen, für die ihr Leben am Zaun endet.

      Nach 90-minütiger Busfahrt in Ensenada angekommen ging ich zur Einwanderungsbehörde. Dort sah ich schließlich das Objekt meiner Begierde liegen: die Touristenkarte. Da ich bisher immer mit dem Flugzeug in Mexiko-Stadt angekommen bin, war die Touristensteuer von umgerechnet 18 Euro im Flugticket inbegriffen. Aber dieses Mal kam ich bekanntlich zu Fuß in Mexiko an. Daher musste ich mit der Touristenkarte zunächst quer durch die Stadt laufen, um bei einer bestimmten Bank meine Touristensteuer zu entrichten, während mein Pass in der Behörde auf dem Schreibtisch liegen blieb. In der Bank herrschte natürlich Hochbetrieb, da Freitag Nachmittag war. Für die in der Schlange wartenden Kunden wurde sogar ein Fernseher mit den obligatorischen Talkshows am Nachmittag aufgestellt. Nach etwa einer halben Stunde konnte ich endlich meine Steuer zahlen, zur Einwanderungsbehörde zurücklaufen und offiziell in die »Estados Unidos Mexicanos« einreisen.

      Ich genoss anfangs einfach das Gewimmel von Menschen, das Geschnatter der spanischen Sprache und die nun permanent zu hörenden Autohupen. Nach 78 Tagen in Hostels, Bussen, Fähren oder im Zelt hatte ich auf dieser Reise nun erstmals ein eigenes Zimmer mit eigener Dusche. Diesen Genuss konnte ich mir in den bisher bereisten Ländern einfach nicht leisten. Jetzt war auch Schluss mit dem Selbst-Bekochen, schließlich ist Mexiko wahrlich ein Paradies der Gaumenfreuden. Vorbei war die permanente Pasta-Tomatensoßen-Zeit. Statt in leeren Restaurants alleine vor einer Mahlzeit zu sitzen, kehrte ich bei einem der vielen kleinen Straßenstände ein. Als Vorspeise gab es gekochte Maiskolben mit Chili-Soße, Limette und Salz. Nachdem mein Mund derart mit scharfer Soße »desinfiziert« wurde, ging es in die nächste »Taqueria«{67}. Ich saß auf Barhockern neben der Straße, während drinnen eine ganze Familie damit beschäftigt war, den Hunger eines deutschen Reisenden und vieler Mexikaner zu stillen. Die Mama hockte hinter der Taco-Presse und schob einen Maisteig-Klumpen nach dem anderen in die Presse. Heraus kam ein frischer Taco, den sie auf ein Backblech legte. Nun lag es in der Hand des Hungrigen, wie man seine Speise komponierte. »Con todo« war meine Standardantwort. So erhielt ich die ganze Palette an Leckereien auf den Taco geklatscht. Der Junge war für das Braten des Fleisches zuständig, das später vom Papa auf einem Holzklotz in kleine Stückchen zerhackt wurde. Papa war natürlich der Chef der die Tacos geschickt mit allen Zutaten belegte, ohne dass etwas herausfiel. So flogen der Reihe nach Fleischstücke, Zwiebeln, Kräuter, eine sehr scharfe Soße, Avocadocreme und Bohnen auf den Taco. Ich konnte auch noch Käse für diesen bestellen, was für den deutschen Nichtgewohnheits-Taco-Schlemmer den Vorteil bot, dass die Zutaten am Taco kleben blieben, statt auf der Hose zu landen. Zur Auswahl standen dazu noch Limetten, Radieschen und Gurken, mit denen ich den Taco garnieren konnte. Am Meer gab es auch Tacos mit Fisch, Calamares oder Shrimps. Einfach köstlich! Nach jedem verspeisten Taco konnte ich wieder einen neuen Con-Todo-Taco bestellen, bis die Kapazitätsgrenze des Magens endgültig erreicht war. Die Tochter in der Taqueria war die Hüterin des Kühlschranks, der Cola zu bieten hatte. Auf die Klebebrause konnte ich mit gutem Gewissen verzichten, gibt es doch in Mexiko ganz andere leckere Getränke zum Ausprobieren. Wer brachte den Mexikanern beispielsweise das Bier? Deutsche Immigranten brauten den ersten Gerstensaft auf mexikanischem Boden. Das gute Corona gab es in zwei Varianten: die gewöhnliche Drittel-Liter-Flasche oder »Corona Familiar«, die Ein-Liter-Familien-Flasche.

      Mit dem Erreichen Mexikos ging auch meine Reise durch Länder ohne Internetcafés zu Ende. Da in den USA die meisten Menschen einen Computer besitzen, bestand praktisch keine Möglichkeit, kurz einmal irgendwo spontan zu surfen. Ich musste zum Schreiben in Bibliotheken gehen und mich anmelden. Das war manches Mal ziemlich anstrengend, da ich bis zu zwei Stunden warten musste. Daher war der Aufenthalt bei Alex und Astrid für mich auch in dieser Hinsicht eine Erholung: Einfach einmal ohne Zeitdruck schreiben.

      In Ensenada begann schließlich meine Fahrt mit den mexikanischen Bussen. Wer gedacht hat, Greyhound sei schon Horror und jetzt in Mexiko würde es sicherlich noch schlimmer, sieht sich getäuscht. Die Busse konnte ich im Voraus buchen und ich bekam ein Ticket mit Sitzplatz-Nummer. So musste ich nicht bereits eine halbe Stunde vorher Schlange stehen, um überhaupt einen Sitzplatz zu erhalten, wie bei Greyhound leider üblich. Der Fahrer hatte einen Sitzplan dabei und notierte mit Bleistift, welcher Sitz bis zu welcher Station besetzt war. So konnte ich auch zwischendurch ein- und aussteigen und bekam direkt meinen Sitzplatz zugewiesen. Die Busse waren meist mit einer Klimaanlage ausgestattet. Normalerweise wird diese in den tropischen Ländern auf maximale Leistung gestellt und man bekommt bestenfalls eine Erkältung, schlimmstenfalls »Frostbeulen«. Mexikanische Busfahrer haben anscheinend den Knopf zum Regulieren gefunden, sodass die Temperatur relativ angenehm war. Obwohl die Mexikaner sicherlich kleiner sind als die Gringos{68}, war der Sitzabstand größer als beim Greyhound, und die Sitze waren wesentlich bequemer. Die Filme, die ich in den mexikanischen Bussen sehen musste, waren mittlerweile auch von besserer Qualität als vor ein paar Jahren, als es nur Jean-Claude-Van-Damme-Karate-Filme zu sehen gab. Die Fensterscheiben der Busse wurden bei jedem größeren Stopp gereinigt, sodass ich auch während der Busfahrt Photos ohne Fettflecken und Dreckklumpen durch das Fenster machen konnte. In jeder Busstation existierte ein Schrein für Maria, die Mutter Gottes. Die meisten Lateinamerikaner sind sehr gläubige Menschen und bei jeder Reise bekreuzigen sich viele an diesen Schreinen, bevor es auf die große Reise geht. Anders als bei Greyhound kam das Kulinarische bei den Fahrten nicht zu kurz. Nun tauchten endlich die ersten Essenverkäufer beim Halten auch direkt im Bus auf, um ihre Leckereien