Nach der vielen Feierei, hieß es Abschied nehmen von Alexander und seinen Kommilitonen. Vor mir stand nun eine 18-Stunden-Busfahrt mit dem Greyhound nach Colorado. Die Menschen, die zusammengepfercht in diesen metallenen Röhren durch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten reisen, bildeten mit der Zeit eine Art Großfamilie. Der Anführer war immer der Fahrer, der gleichzeitig Mädchen für alles war: Ticketkontrolleur, »Klopapier-Auffüller«, »VJ« wenn es Videos gab, Gepäckträger und Einmann-Unterhalter. Ihm huldigten die Passagiere, da er bestimmte, wann es weiterging und wo gehalten wurde. Leider stoppte der Fahrer beziehungsweise die Fahrerin allzu oft bei McDonald´s. Alle Passagiere gaben acht, dass niemand zurückgelassen wurde. Mein Handgepäck konnte ich getrost im Bus zurücklassen, ohne dass es geklaut wurde. Im Bus herrschte noch die heile Welt Amerikas vor 09/11.
Die Fahrt nach Colorado führte durch die US-Bundesstaaten Texas und New Mexico. Texas wird als »Lone Star State« bezeichnet, da sich auf der Staatsflagge lediglich einem Stern befindet. Texas wurde 1845 von den USA annektiert, nachdem der Staat sich einige Jahre vorher von Mexiko für unabhängig erklärt hatte, da Mexiko die Sklaverei hatte abschaffen wollen. 1846 kam es unweigerlich zum Krieg zwischen den USA und Mexiko. Den Krieg entschieden die USA für sich, und Mexiko musste die Gebiete der heutigen Staaten Kalifornien, Utah, Colorado und New Mexico an die USA abtreten. Für zehn Millionen US-Dollar kauften die USA schließlich den Rest des heutigen New Mexiko und Arizona von Mexiko im Jahre 1853 ab. New Mexiko durchfuhr ich nur im äußersten Nordosten für einige Stunden, ehe ich nach Colorado gelangte. Colorado wird auch als »Centennial State« bezeichnet, da dieser Staat im Jahre 1876 den Vereinigten Staaten beitrat – exakt 100 Jahre nach der selbsterklärten Unabhängigkeit. Zunächst fuhr ich in die »Mile High City« Denver, die exakt 1.600 Meter hoch gelegen ist, und anschließend weiter nach Boulder. Auf dieser Fahrt zeigte sich wieder einmal die Freundlichkeit der Amerikaner. Da ich 3,50 US-Dollar passend zu zahlen hatte, aber nur einen fünf US-Dollar Schein besaß, nahm mich der Fahrer einfach kostenlos mit.
In Boulder angekommen, staunte ich nicht schlecht: kein McDonald´s, kein Burger King, kein Wendy´s, kein Taco Bell und kein »Schrottfutter-Supermarkt«. Dafür nur Ökoläden mit Vollwertkost und Essen aus biologischem Anbau. Die Stadt liegt direkt am Fuß der Rocky Mountains und ist für seine alternativ lebende und denkende Bevölkerung bekannt. Als ich einem Bewohner von Boulder erzählte, dass ich es bewundernswert fände, dass Fans von verschiedenen Football-Teams gemeinsam friedlich feiern können und dass dies in Europa bei Fußballspielen manches Mal gänzlich anders sei, meinte er trocken, dass Amerika die Aggressivität und Kampfbereitschaft in der Politik rauslasse, Europäer wohl eher beim Sport.
Ich genoss die Herbsttage in den Rocky Mountains mit einer Wanderung durch das kunterbunte Colorado der Rocky Mountains: leuchtend gelbes Birkenlaub, grüne Tannen, rot gefärbte Ahorn-Bäume, dunkelblauer Himmel, rötlich-brauner Fels und weißer Sand nach Osten hin in Richtung der großen Ebenen im mittleren Westen der USA. In Boulder fand ich auch meinen Traumjob: »Paperboy«. Der Paperboy fuhr morgens mit verpackten Zeitungen durch die Stadt und warf die Zeitung von der Straße aus in Richtung Haustür. Ob er das Ziel traf oder nicht war zweitrangig. So flogen überall Zeitungen in den Büschen und auf dem Rasen der Vorgärten herum. Aber der Paperboy hatte seine Arbeit getan.
Von Boulder fuhr ich durch den Staat Wyoming weiter in die Olympiastadt Salt Lake City. Wyoming hat zwei Spitznamen. Der erste lautet »Cowboy State«. Diesen Namen hat sich Wyoming wirklich verdient, sieht es dort doch tatsächlich so aus wie in jedem Western. Trockensavanne, einsame Eisenbahnstrecken, Schneeberge im Hintergrund, pfeifender Wind und schlecht rasierte Typen. Den Namen »Equality State«{53} verdiente sich Wyoming, als es 1869 als erster Bundesstaat und vielleicht auch als erste Region weltweit den Frauen über 21 Jahre das Wahlrecht gab. Dies geschah allerdings nicht aus emanzipatorischen Gründen, sondern um Frauen in den Cowboystaat zu locken. Der Überschuss an Männern betrug damals sechs zu eins.
Nachdem ich den ganzen Tag durch die Prärie getuckert war, kam ich abends in Utahs Hauptstadt Salt Lake City an. Der Name Utah geht auf die Ute-Bewohner zurück, die hier vor etwa 8.000 Jahren siedelten. Im 19. Jh. wurde Utah zur Heimat der Mormonen, einer christlichen Religionsgemeinschaft. Die Mormonen flohen vom heutigen Illinois nach Westen, da sie wegen ihrer Religion verfolgt wurden. Im Gebiet von Utah fanden sie eine neue Heimat. Nach sechs Versuchen, den USA beizutreten, wurde Utah beim siebten Versuch 1896 der 45. Staat der USA. Vor der Aufnahme in die Staatengemeinschaft musste die bei den Mormonen praktizierte Polygamie offiziell abgeschafft werden. Salt Lake City machte auf mich wie zuvor St. Louis einen verschlafenen Eindruck, der sich in mir durch die fehlende Straßenbeleuchtung noch verfestigte. Allerdings konnte ich im Dunkel von Salt Lake dadurch ungestört und seelenruhig ein Dosenbier ohne Verpackung auf der Straße genießen.
Von Salt Lake City reiste ich durch die Staaten Utah, Idaho, Montana und Washington nach Vancouver in British Columbia. Der »Gem State«{54} Idaho ist wie Utah ein Wüstenstaat mit herrlichen Landschaften. Der Sonnenuntergang in dieser Region sah aus wie ein Bild des Surrealisten René Margritte: hell leuchtende Wolkenformationen vor schwarzer riesenhafter Bergkulisse. In Montana liegt die Quelle des Flusses Missouri und der Staat wird auch als »Big Sky Country«{55} bezeichnet. Leider fuhr ich fast ausnahmslos durch das nächtliche Montana und konnte lediglich den hell leuchtenden Vollmond bewundern. Am Ende dieser langen Busfahrt angelangt, musste leider feststellen, dass mein Rucksack nicht so weit gekommen war. Ob er in Butte, Montana, in Spokane,Washington, in Portland, Oregon, oder in Vancouver, Washington, lag? Ich wusste es nicht. Greyhound kannte dieses Problem bereits zur Genüge und versprach mir, dass er bald auftauchen würde. Wann dies geschehen würde? Das wusste ich ebenfalls nicht.
Abschied von Freunden
Etappe: Von Vancouver BC, Canada 49° Nord 123° West (GMT-7) nach Seattle WA, USA 48° Nord 122° West (GMT-7): 420 km – Total 22.782 km
Seattle, 24. Oktober 2002
Vor lauter Ärger mit Greyhound, wegen meines verlorengegangen Rucksacks, bemerkte ich erst später, dass ich mittlerweile den Pazifik erreicht habe, der mich von nun an lange auf meiner Reise begleiten wird.
Es war schon ein komisches Gefühl in Vancouver, nun ohne großen Rucksack weiterzureisen, nachdem Greyhound mein Gepäck verschlampt hatte. Wenigstens konnte ich meine Reise fortsetzen, versprachen doch die Angestellten der Busgesellschaft, das Gepäck nach Vancouver Island nachzusenden, für den Fall, dass es gefunden würde. Dabei war eigentlich alles ganz einfach. In Butte, Montana, stieg ich in den Bus nach Seattle, Washington, das zugleich Endstation des Busses war. Warum jemand den Rucksack irgendwo dazwischen auslud, war mir wirklich unbegreiflich, schließlich befand sich ein Gepäckanhänger mit dem Ziel Vancouver, BC, via Seattle, WA, daran. Dieser Gepäckanhänger gab mir aber die Hoffnung, dass der Rucksack nicht für immer verschwunden war, da zumindest bei Fluggesellschaften die meisten Gepäckstücke früher oder später ihren Besitzer wiederfinden. Bei diesen bekommt man allerdings ein »Überlebenspäckchen« ausgehändigt, um sich seine Zähne zu putzen und sich rasieren zu können, damit man sich in der Zivilisation noch blicken lassen kann, ohne gleich als behaartes, stinkendes Etwas abgestempelt zu werden. Bei Greyhound bekam ich hingegen nur warme Beileidsbezeugungen nach dem Motto »We are so sorry«, zu Deutsch: Pech gehabt.
Lediglich mit einem Tagesrucksack, neuer Zahnbürste und Deo »bewaffnet«, setzte ich von Vancouver nach Vancouver Island über, um Astrid, mit der ich in Neufundland getrampt war, zu besuchen. Da ich weder Schlafsack noch Matte mehr besaß, war unser Plan, eine Mehrtagestour zu unternehmen, völlig durchkreuzt. Auf Vancouver Island musste ich mir zunächst neue Unterwäsche zulegen, schließlich hatte ich keine Austauschklamotten mehr bei mir . Ich genoss die Tage auf Vancouver Island auch ohne Übernachtungen im Zelt, nasse Füße, Moortee und Wanderung durch die unberührte Natur. Stattdessen tranken wir den wirklich guten Kaffee in einem der vielen urgemütlichen »Coffeeshops« in Victoria, der Hauptstadt der Provinz British Columbia und das gute Bier, auf Vancouver Island gebraut, das nun endlich wieder nach Gerstensaft schmeckte. Das »Indian Pale Ale« hatte es mir besonders