Danach wollte man die Stadt feuer- und für Toiletten funktionssicher wieder aufbauen. Dies hätte allerdings mindestens zehn Jahre gedauert. Man hätte die gesamte Stadt etwa zwei Meter nach oben versetzen müssen. So bauten die Menschen bereits am nächsten Tag ihre Häuser wieder auf – dieses Mal aus Stein. Die Stadtverwaltung aber ließ die Straßen tatsächlich erhöhen und baute auch ein Abwassersystem ein. So kam es dazu, dass die Straßen zwischen zwei und zehn Meter über dem Erdgeschoss der Häuser erbaut wurden, die Bürgersteige aber auf dem alten Niveau der Hauseingänge lagen. Dabei wurde mit jedem Block weiter vom Meer entfernt die Straße höher gebaut, damit das Abwassersystem funktionieren konnte. Wollte man nun als Passant die Straße überqueren, so musste man über Leitern auf die Straße klettern und anschließend auf der anderen Seite wieder hinunterklettern. Für Leute, die zuviel Bierchen gekippt hatten, war dies manches Mal wirklich fatal. Während dieser Zeit kamen 17 Menschen auf den Bürgersteigen oder beim Hinunterfallen auf diese ums Leben. Das Marschieren auf den Bürgersteigen war auch nicht sicher. Manchmal sind ganze Wagenladungen den Bürgersteig hinuntergefallen und haben die Menschen unter sich begraben. Irgendwann kam man auf die Idee, die Bürgersteige dem Niveau der Straße anzupassen. Es entstand das besagte Unterwelt-System. Man konnte nun die Häuser im ersten Stock auf Straßenhöhe betreten oder im Erdgeschoss ins Untergrundsystem gelangen. Dieses Untergrundsystem verkam immer mehr zu Opium-, Spielhöllen und Lagerstätten für Alkohol, besonders während der Zeit der Prohibition{60} von 1920 bis 1933.
Von Seattle reiste ich auf einer unglaublich unspektakulären Busfahrt mit dem Greyhound weiter in die Metropole des »Beaver State«{61} Oregon, nach Portland. Die Oregonians sind bekannt für ihre Liebe sämtlicher Outdoor-Aktivitäten. Aufgrund des Faibles für die Natur wurde in Oregon auch das Recycling auf amerikanischem Boden erfunden. Da auch ich mittlerweile auf den Outdoor-Trip gekommen war, wollte ich in Portland auch wieder nur raus in die Natur. Bob, der Busfahrer der Linie 63, gab mir den entscheidenden Tipp, während der kurzen Fahrt zu den Botanischen Gärten der Stadt. Bei Fred würde ich sicher gutes Kartenmaterial bekommen. Fred war zwar nicht da, aber im Besucherzentrum wurde ich förmlich mit Karten bombardiert. So konnte ich direkt aus der Stadt in die urigen Wälder Oregons ziehen. Der Lärm der Stadt ebbte nach und nach ab. Bald hörte ich nur noch fallendes Laub und Vogel-Gezwitscher. Die Sonnenstrahlen, die das dichte Blätterdach durchdrangen, sahen aus wie E.T.’s leuchtendes Raumschiff. Die Szenerie kam mir tatsächlich etwas unnatürlich vor, da ich Sonnenstrahlen in einer solchen Intensität nie zuvor gesehen hatte. Interessanterweise fühle ich mich bei solchen Wanderungen niemals einsam, obwohl ich stundenlang niemandem begegne, in den Großstädten hingegen kam ich mir manchmal wirklich einsam vor, obwohl Tausende von Menschen um mich herum waren.
In Portland holte mich die Realität aus meinen Träumereien zurück. An den Supermärkten hockten Dutzende von Obdachlosen, die den ganzen Tag bettelten. Da erinnerte ich mich an Papis Taktik, einen »Rastafarian«{62} aus Surinam, den ich auf einer früheren Reise traf: Biete den Bettlern etwas zu essen an. Wenn sie wirklich hungrig sind, werden sie es erfreut entgegennehmen. So bot ich einem indigenen Obdachlosen ein halbe Gurke an, die dieser doch tatsächlich entgegennahm. Es war schockierend, dass es im reichsten Land der Welt Menschen gab, die anscheinend tatsächlich nicht genug zu essen bekamen. Danach begab ich mich zum nächsten Abenteuer mit Greyhound. Da Freitag war, stellte ich mich rechtzeitig in die Schlange, da ich exakt drei Wochen zuvor bekanntermaßen aus dem überbuchten Bus nach Burlington hinausflog. Dieses Mal waren die Leute von Greyhound aber tatsächlich flexibel, denn der Bus war natürlich wieder überbucht. Doch sie setzten tatsächlich einen weiteren Bus ein. Vor dem Einsteigen mussten einige Passagiere, inklusive mir, einen Sicherheits-Check über sich ergehen lassen. Dieser war sehr genau, da Greyhound keine Röntgengeräte besaß und ich folglich mein gesamtes Handgepäck auskippen durfte. Mein Multifunktionswerkzeug musste ich in den Rucksack packen. Schließlich könnte ich unter Umständen mit dem Werkzeug ja den Bus entführen. Greyhound wäre nicht Greyhound, wenn diese Prozedur Sinn gemacht hätte. Nach der Hälfte der zu untersuchenden Passagiere hatte das Sicherheitspersonal Lust auf Burger und Chips und hörte einfach auf, das Handgepäck der Leute auszuleeren und zu untersuchen. Wir hatten allerdings trotzdem bereits eine halbe Stunde Verspätung. Die Busfahrer der beiden Busse waren aber sehr pragmatisch. Sie teilten die Passagiere nach Zielen auf. Somit konnte jeder Bus ein paar Stationen auslassen, sodass wir in Sacramento, der Hauptstadt Kaliforniens, mit rund 30 Minuten Verfrühung ankamen.
Die ersten europäischen Siedler Kaliforniens waren russische Pelzhändler, gefolgt von spanischen Missionaren, die 1776 eine Mission namens San Francisco, 1777 eine namens San José und 1781 eine namens Los Angeles gründeten. Als Mexiko von Spanien 1821 unabhängig wurde, gehörte Kalifornien fortan zu Mexiko. Siedler, die aus den US-Territorien nach Kalifornien vorstießen, gründeten eine Art Unabhängigkeitsbewegung und riefen die »Bear Flag Republic«{63} aus. Diese Republik hatte nicht allzu lange Bestand, aber den Bären findet man noch immer in der Staatsfahne und der Spitzname »Bear Flag Republic« findet bis heute Verwendung. 1846 erklärten die USA Mexiko den Krieg und beim Friedensschluss 1848 wurde Oberkalifornien von Mexiko an die USA abgetreten. Niederkalifornien, die so genannte »Baja California«, blieb mexikanisch.
Von Sacramento sollte es mit dem Greyhound um halb acht morgens weiter nach San Francisco gehen. Aber bis acht Uhr tat sich überhaupt nichts. Greyhound-Passagiere gehören sicher zu den gutmütigsten Wesen der USA. Niemand zeigte irgendeine Regung trotz der Verspätung. Um zehn nach acht lief plötzlich jemand wild gestikulierend durch den Busbahnhof und teilte mit, dass der Bus irgendwo eine Reifenpanne hatte. Weitere zehn Minuten später sagte man uns, wir sollten den langsamen »Milk Run« nach San Francisco nehmen. Gerade waren wir am Einsteigen, als der Fahrer des Busses meinte, der andere Bus käme in fünf Minuten. Nun weiß ich bereits seit Boston, dass fünf Minuten bei Greyhound auch drei Stunden bedeuten können, aber es war frühmorgens, und da hatte ich anscheinend noch das naive Gottvertrauen in die Ehrlichkeit der Menschen und wurde belohnt. Der Bus kam tatsächlich und wenig später startete ich in Richtung San Francisco. Der Bus war mit Gitarre spielendenden, langhaarigen, lange Röcke und Sandalen tragenden Hippie-Pärchen besetzt, die mittlerweile um das Utensil eines Kindersitzes erweitert in die frühere Hippie-Metropole unterwegs waren. Natürlich waren auch die obligatorischen Skateboarder dabei, die in der Hügelstadt San Francisco das beste Terrain zum Skaten vorfinden. So war es kaum verwunderlich, dass das Skateboard auch dort erfunden wurde. Viele Reisende waren zu einer Anti-Bush- und Pro-Irak-Demonstration unterwegs. Auf ihren Plakaten konnte ich Sprüche wie »Drop Blair and Bush, not bombs«{64} oder »God bless Iraq, too«{65} lesen. Ich las auch starke Graffiti mit dem Text »Bush is terror«. Die Friedensfahne sah ich mindestens genauso oft wie das Sternenbanner. Amerika war anscheinend nicht mehr so vereint, wie kurz nach 09/11, und die Bevölkerung zeigte nicht mehr die sagenhafte uneingeschränkte Solidarität mit ihrem Präsidenten.
Auch in San Francisco kam ich wieder in den Genuss, lange Wandertouren direkt aus der Stadt zu unternehmen. Es existierte sogar ein Wanderweg über die berühmte Golden-Gate-Bridge nach Marin County. Die Brücke, die 1937 fertiggestellt wurde, sah schon von weitem sehr beeindruckend aus. Damit sie auch immer schön in ihrem rot-orangenen Ton strahlen kann, ist ein Team von Malern permanent damit beschäftigt, die Brücke anzustreichen. In einer Woche verbrauchen sie rund 3.800 Liter Farbe. Wieviel Farbe davon für die Dixie-Klos der Maler verbraucht wird, die ebenfalls in Rotorange auf der Brücke erstrahlen, konnte ich leider nicht