Tequila und Wendekreise
Etappe: Von Los Mochis, México 26° Nord 109° West (GMT-7) nach Taxco, México 19° Nord 100° West (GMT-6): 2.600 km – Total 29.836 km
Taxco, 14. November 2002
Mittlerweile hatte ich mich in Mexiko richtig eingelebt. Das Land hat seit meinem ersten Besuch 1995 eine rasante Entwicklung hinter sich. Manchmal habe ich das Gefühl, Mexiko verbindet eine Art »Hassliebe« mit den USA. Eigentlich mag man seine meist nur englisch sprechenden Bewohner nicht, andererseits ist man auf den »American Way of Life« neidisch und versucht diesen zu kopieren, was meist mehr schlecht als recht funktioniert. Glücklicherweise verebbte dieser Eindruck langsam bei mir, je weiter ich nach Süden unterwegs war, und Mexiko bleibt an vielen Stellen doch noch Mexiko.
Die Überfahrt von der Baja California nach Topolobampo führte durch die Cortés See, einem Teil des Pazifiks. Der Name Cortés steht in der Weltgeschichte für eines der größten und fatalsten Missverständnisse. Nachdem Christoph Kolumbus 1492 die Insel Hispaniola entdeckt hatte, versuchten die Spanier erneut den Seeweg nach Indien weiter westlich zu entdecken. 1519 landete der spanische Kolonialist Hernan Cortés im heutigen Mexiko, genauer gesagt an der Karibik-Küste im Bundesstaat Tabasco. Dem damaligen Azteken-König Montezuma II. wurde berichtet, dass Türme auf dem Wasser an die Küste heranschwammen. Gemäß dem Azteken-Kalender erwartete man im Aztekenreich 1519 die Rückkehr des Gottkönigs Quetzalcoatl aus dem Osten. Daher nahm Montezuma fälschlicherweise an, Cortés sei Quetzalcoatl und lud ihn nach Tenochtitlan, in die alte Azteken-Hauptstadt, ein. Die 400 Spanier um Cortés siedelten in Tenochtitlan, doch leider blieb es nicht beim friedlichen Zusammenleben. Die Spanier hatten Angst, von den Azteken umgebracht zu werden und töteten daher selbst ca. 200 Adlige. Das nun sicher zu erwartende Gemetzel sollte auf Druck von Cortés durch Einreden Montezumas auf die Azteken vermieden werden. Doch Montezuma selbst wurde entweder von Azteken oder Spaniern umgebracht, und die Spanier flohen am 30. Juni 1520. Sie kamen allerdings später mit etwa 100.000 alliierten Indianern zurück, die von den Azteken damals unterdrückt wurden. Am 13. August 1521 wurde Tenochtitlan eingenommen und restlos zerstört. Damit gehörten 3.000 Jahre mexikanischer Zivilisation der Vergangenheit an. Auf dem zerstörten Tenochtitlan wurde die mittlerweile größte Stadt der Welt, Mexiko-Stadt aufgebaut. Die spanische Besetzung »Nueva España«,{70} das später in »México« umgetauft wurde, hielt genau 300 Jahre. 1821 wurde Mexiko eine präsidiale Demokratie.
Von Topolobampo reiste ich mit einem so genannten Zweite-Klasse-Bus weiter ins Landesinnere nach Los Mochis. Die mexikanischen Zweite-Klasse-Busse waren etwas anders ausgestattet als die Langstreckenbusse, denn die Klimatisierung stammte vom Fahrtwind der durch die mehr oder weniger noch existierenden Fenster herein blies. Die Busse hatten vor Jahrzehnten amerikanischen Schulkindern gedient und waren nunmehr für kleingewachsene Mexikaner da. Ich lernte schnell meine Beine geschickt zu »verknoten«, sodass auch ich auf den Sitzen Platz nehmen konnte. Am nächsten Tag musste ich dem Pazifik bis auf weiteres »¡Adios!« sagen, und es ging nun seit Schottland zum ersten Mal wieder mit einem Zug voran. Die Eisenbahn »Ferrocarril Chihuahua Pacifico« verbindet die heiße Landwirtschaftsmetropole Chihuahua im Norden des Hochlands von Mexiko mit dem Pazifik. Auf den über 600 Kilometern Gleisstrecke müssen mehr als 2.400 Höhenmeter überwunden werden. Dazu wurden 39 Brücken und 86 Tunnel gebaut. Ein Großteil der Strecke führt durch den so genannten »Barranca del Cobre«, zu Deutsch Kupfer-Canyon. Dieser besteht aus mehr als 20 Schluchten und ist insgesamt viermal größer als der Grand Canyon in den USA.
Auf Meereshöhe rollte ich zunächst durch Ackerland und durch die Palmen-Wälder des Küstenstreifens. Die Höchstgeschwindigkeit von etwa 40 km/h ließ das Gefühl aufkommen, als ob es überhaupt nicht voranginge. Aber wenigstens konnte bei dieser Geschwindigkeit auch nicht viel Fatales passieren. Das rhythmische Geschaukel nach links und rechts sowie das monotone Gequietsche der Waggons ließ uns Passagiere nochmals einschlafen, denn die Abfahrt um sieben Uhr morgens war definitiv unchristlich. Aber mittlerweile befand ich mich im Bereich der Tropen, wo das ganze Jahr um sechs Uhr morgens die Sonne aufgeht und um sechs Uhr abends wieder untergeht. Dementsprechend ist das ganze Leben auf die Sonne ausgerichtet und viele Busse, Fähren oder Züge fahren kurz nach Sonnenaufgang los, um möglichst vor Sonnenuntergang das Tagesziel zu erreichen. Also musste ich nun oftmals um fünf Uhr morgens aufstehen. Nach dem Sonnenuntergang passiert in vielen Dörfern und Städtchen auch nicht mehr viel, sodass ich meist um zehn Uhr abends ins Bett sprang. Daher fiel mir das frühe Aufstehen auch zunehmend leichter.
Nach zwei Stunden Zugfahrt oder ca. 80 Kilometern gab es schließlich die ersten Essenverkäufer, die die Waggons zum Frühstück stürmten. Diesmal waren »Buritos«{71} der absolute Renner. Von Taco Bell aus den USA mitgebrachte Soßen machten den ziemlich fahlen Burito richtig würzig. So ergab sich doch noch ein sehr leckeres Frühstück. Nach etwa fünf Stunden Fahrt rollte der Zug langsam in den Kupfer-Canyon hinein. Auf der Talsohle wuchsen noch Orangenbäume, Palmen und andere Obstbäume. Bald darauf wurde die Bahnstrecke steiler und wir rollten durch die vielen Tunnels und Brücken langsam bergauf. Die Landschaft wurde durch die steilen Felswände immer reizvoller und so verbrachte ich die meiste Zeit zwischen den Waggons, da ich dort ohne Fenster frei fotografieren konnte. Bei jedem Tunnel musste ich die Luft anhalten, da die Diesellok diese ziemlich schnell verpestete. Zum Glück stand vor jedem Tunnel die Länge angeschrieben – bei Längen von mehr als 300 Metern war Luftanhalten nicht mehr möglich. Da hieß es rechtzeitig in den Waggon flüchten, wollte ich mir meine Lungen nicht total zurußen. Die Strecke gewann immer mehr an Höhe. Im Berg zog der Zug durch so genannte Kehren-Tunnels wie in Serpentinen bergauf. Da die Bahnstrecke meist eingleisig verlief, mussten wir natürlich irgendwann auf den Gegenzug an einer Stelle treffen, wo hoffentlich die Strecke kurz zweigleisig angelegt war. Leider musste immer ein Zug auf den anderen warten, da die Fahrpläne nicht so ganz aufeinander abgestimmt waren. So hieß es für meinen Zug knapp eine Stunde auf freier Strecke warten.
Nach zehn Stunden Fahrt und Warten hatten wir die höchste Stelle mit 2.400 Metern Höhe erreicht. Die Vegetation erinnerte mich eher an den Schwarzwald als an Mexiko. Nadelwald soweit das Auge reichte, lediglich durch das Panorama unterbrochen, das sich unweit der Gleise uns bot. Der ganze Kupfer-Canyon lag mit seiner Talsohle ca. 1.900 Höhenmeter unter unseren Füßen. Im Licht der untergehenden Sonne und durch riesige Schatten sah der Canyon wirklich gewaltig aus. Vom höchsten Punkt fuhr ich schließlich nicht mehr mit dem Zug weiter, war doch genau einen Tag vorher ein Zug direkt hinter der Anhöhe entgleist. Glücklicherweise war anscheinend aber niemandem dabei etwas zugestoßen. Das Gepäck wurde auf einen Lkw umgeladen, die Passagiere in Klapperbusse verfrachtet und weiter ging es nach Creel. Die gesamte Zugfahrt unternahm ich mit einem internationalen Team aus Holland, der Schweiz und Spanien. Als Alleinreisender bleibt man selten alleine. Gerade in Mexiko reisen viele Leute mit dem Rucksack quer durchs Land, sodass ich gelegentlich mit Anderen unterwegs war. Oft hat man die gleichen Ziele und so reist man manchmal länger, manchmal kürzer miteinander. Wenn man keine Lust mehr aufs Zusammenreisen hat, kann man immer abspringen und eine andere Route wählen. Dies macht das Alleinreisen wirklich reizvoll.
Zusammen mit den anderen Reisenden fuhr ich am nächsten Tag durch das Land der Tarahumara-Indianer, die im Hochland und im Kupfer-Canyon zum Teil noch in Höhlen lebten. Aber so unberührt von der Zivilisation gingen diese Menschen nun auch nicht mehr ihrem Alltag nach. Allerdings trugen viele Tarahumara noch ihre bunten Trachten, sicherlich nicht nur zu touristischen Zwecken. Die Tarahumara nennen sich selbst Rarámui.{72} Das schnelle Rennen war traditionell die Jagdmethode der Tarahumara. Sie rannten dem Wild so lange hinterher, bis es außer Puste war. Danach trieben sie die Tiere über den Felsrand, hinter dem hölzerne, spitze Stöcke aufgestellt waren. Heute veranstalten die Tarahumara Rennen, bei denen sie 160 Kilometer am Stück durch den Canyon rennen und einen wollenen Ball vor sich her schießen. Nicht nur die Tarahumara-Häuser und -Höhlen waren eine Reise wert, sondern auch die Umgebung, in denen die Indianer oberhalb des Canyons lebten. Ungewöhnliche Felsformationen